Wissenschaftsfreiheit als Prämisse von Friedens- und Konfliktforschung

Grundrechtliche Verankerung

Egal ob Forschung über oder für den Frieden: Wie jede andere Wissenschaft ist auch die Qualität und Relevanz von Friedens- und Konfliktforschung von ihren gesellschaftlichen und politischen Möglichkeitsbedingungen abhängig. Eine dieser Grundvoraussetzungen ist die in internationalem Recht ebenso wie in nationalen Verfassungen (Deutschland, Österreich, Schweiz) grundrechtlich verankerte Freiheit der Wissenschaft in Forschung und Lehre.1 Als Errungenschaft der bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts ist sie in erster Linie als Abwehrrecht gegenüber Eingriffen des Staates zu verstehen. In einer demokratischen Wissensgesellschaft hingegen muss Wissenschaftsfreiheit auch als Teilhaberecht gelebt werden, um sich ihren normativen Idealen anzunähern.2

Beide Dimensionen stehen durch historische und gegenwärtige Verstrickungen der Wissenschaften in Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse zugleich stets zur Disposition. Diskussions- und Handlungsräume werden derzeit auch in der Friedens- und Konfliktforschung sowie in der Friedens(bildungs-)arbeit massiv eingeschränkt, indem sowohl in Wissenschaft als auch in der Politik bestimmte gegenhegemoniale Sichtweisen unter Generalverdacht gestellt und aus dem Spektrum respektabler Positionierungen ausgegrenzt werden.

Umkämpftes Terrain

Angriffe auf unliebsame Intellektuelle, Wissenschaft und Kunst bilden einst wie heute ein wesentliches Element autoritärer Wenden. Bereits seit einigen Jahren erleben insbesondere Vertreter*innen kritischer Wissenschaftstraditionen massive Be- und Verhinderungen ihrer Arbeit, wie etliche Beispiele in Feldern wie der Kritischen Migrationsforschung, den Gender Studies und den Post- bzw. Decolonial Studies verdeutlichen. Verschärft werden diese Entwicklungen im deutschsprachigen Raum insbesondere im Kontext der hochumstrittenen Kriege im Gaza und der Westbank, aber auch rund um den Krieg in der Ukraine sowie jenen der Türkei in Nordsyrien und im Nordirak: Das belegen unzählige Absagen von Veranstaltungen, Ausladungen von Vortragenden, Eingriffe in Lehrveranstaltungen, Verbote von Versammlungen, hochschulinterne und -externe Reglementierungsversuche gegenüber Lehrenden sowie Streichungen von Förderungen wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Aktivitäten in erschreckendem Ausmaß.

Hinzu kommt ein besorgniserregender Abschreckungseffekt,3 der sich in einem hochgradig prekarisierten professionellen Umfeld als Selbstzensur besonders wirksam entfaltet. Nicht zuletzt die im deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung erwogene Prüfung

strafrechtlicher wie förderrechtlicher Schritte gegen die Unterzeichner*innen eines offenen Briefes zur Wahrung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit anlässlich der Räumung eines Protestcamps im Mai 2024 setzt hier ein fatales Signal.4 Auch die Arbeit zivilgesellschaftlicher (Friedens-)Organisationen wird durch öffentliche Diffamierung diskreditiert oder gar kriminalisiert sowie durch den Entzug von Fördermitteln (wie jüngst für Kooperationen der deutschen Bildungs- und Begegnungsstätte Kurve Wustrow mit den in Israel tätigen NGOs Zochrot und New Profile) behindert.5

Instrumentalisierung von Antisemitismus

Völkerrechtliche, politische, gesellschaftliche und auch akademische Kontroversen werden in Bezug auf die jüngsten Entwicklungen in Israel/Palästina international deutlich weniger obsessiv und restriktiv geführt als im deutschsprachigen Raum, wo es offenkundig nicht nur um die Opfer politischer Gewalt, sondern oft auch um die Befindlichkeit der Mehrheitsgesellschaft geht.6 Zahlreiche internationale Kolleg*innen bezeichnen die in Deutschland, Österreich und der Schweiz verstärkt zu beobachtende Instrumentalisierung von Antisemitismus als nicht nur problematisch, sondern als provinziell. Diese leiste, so die Argumentation, einer zunehmend autoritären Weltordnung Vorschub, die weit über den aktuellen Krieg in Israel/Palästina hinausgeht.

Nicht zuletzt mit der Beschwörung der sogenannten Staatsräson – einem Konzept aus der Zeit des Absolutismus,7 das einem demokratischen Politikverständnis diametral entgegensteht und zugleich die autoritäre Wende nach innen flankiert – wird nicht nur gegen demokratisch- liberale Prinzipien wie Wissenschafts- und Versammlungsfreiheit, sondern etwa mit Waffenlieferungen auch gegen Völkerrecht wie z.B. den Arms Trade Treaty verstoßen.

Antisemitismus-, Holocaust- und Genozidforscher*innen, darunter auch zahlreiche jüdische Intellektuelle, weisen darauf hin, dass die verstärkten Interventionen der deutschen, schweizerischen und österreichischen Bundesregierungen, aber auch etlicher Leitungsgremien von Universitäten, Hochschulen, Schulen und anderer Bildungseinrichtungen in krassem Gegensatz zu internationalem Recht und zur von unseren Vorgänger*innen hart erkämpften Freiheit der Wissenschaft in Forschung und Lehre stehen. Die forcierte Repression stellt ein wirksames Mittel gegenüber kritischer Forschung, Bildung und Öffentlichkeit dar. Sogar die eher konservative Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in Deutschland sorgt sich mit Blick auf die Resolution des Bundestags zu Antisemitismus an Schulen und Hochschulen um Hochschulautonomie und Wissenschaftsfreiheit.8

Im deutschsprachigen Raum wurden bislang überwiegend in anderen disziplinären Feldern als der Friedens- und Konfliktforschung Stellungnahmen gegen repressionsfördernde Instrumente wie die beiden deutschen Bundestagsresolutionen „Nie wieder ist jetzt: jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“9 bzw. „Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern“10 erarbeitet. Gerade für die Friedens- und Konfliktforschung und kritische Bildungsarbeit ist es selbstverständlich, Antisemitismus ebenso wie jeder anderen Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unmissverständlich entgegenzutreten. Doch

beide genannten Resolutionen basieren auf der unbestimmten und missbrauchsanfälligen Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA).11 Mit ihrer Hilfe lassen sich jegliche Kritik an der Politik Israels und sogar bestimmte Fachbegriffe bzw. Theorieperspektiven leicht als antisemitisch brandmarken, – eine Anschuldigung, die Organisationen und Projekte ihre Förderwürdigkeit, Menschen ihre berufliche Existenz kosten kann.

Ein anderes Beispiel für die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit in Forschung und Lehre im Zuge der autoritären Wende ist das „Positionspapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Forschungssicherheit im Lichte der Zeitenwende“12 sowie das „Gesetz zur Förderung der Bundeswehr“13 insbesondere an Bildungseinrichtungen. Beide wurden in der zivilgesellschaftlichen und studentischen Initiative der Zivilklauselbewegung offensiv kritisiert. Auch wenn sie in keinem direkten Zusammenhang mit der Debatte um Staatsräson und Erinnerungskultur stehen, ist die zunehmende Indienstnahme von Bildung und Wissenschaft für eine breit eingeforderte neue „Kriegstüchtigkeit“ darin deutlich erkennbar.

Verantwortung der Friedens- und Konfliktforschung

Ungeachtet unterschiedlicher theoretischer Perspektiven und konkreter Forschungsschwerpunkte geht es uns als Friedens- und Konfliktforscher*innen um die Wahrung und demokratische Weiterentwicklung der Freiheit der Wissenschaften in Forschung und Lehre. Autoritative Eingriffe der Politik zur Entscheidung wissenschaftlicher Kontroversen, wie im Falle der Antisemitismus-Definition geschehen, sind mit diesem Ziel unvereinbar. Dasselbe gilt für die Forderung nach verstärkter Zuarbeit zu Krieg und Militarismus in (Hoch-)Schulen, Universitäten und Zivilgesellschaft.

In diesem Sinne fordern wir politische Entscheidungsträger*innen auf, weitere Restriktionen in Wissenschaft und Bildung zu unterlassen und bisher erfolgte Vorstöße zurückzunehmen. Vielmehr gilt es, Universitäten, Hochschulen und Bildungseinrichtungen als lebendige Diskursräume zu gestalten und nicht zuletzt auch damit Frieden zu fördern. Wir ermutigen einander und unsere Kolleg*innen in Institutionen von Wissenschaft und Bildung, Einschränkungen der Freiheit von Wissenschaft in Forschung und Lehre etwa auf Basis der Instrumentalisierung von Antisemitismus genauso entschieden entgegenzutreten wie Antisemitismus und anderen Formen von Diskriminierung, aber auch der zunehmenden Indienstnahme der Hochschulen und Universitäten für militärische Zwecke und einer innergesellschaftlich verstärkten Repression gegenüber Meinungs-, Versammlungs- und Wissenschaftsfreiheit.

Als Friedens- und Konfliktforscher*innen treten wir dafür ein, von Einschüchterung, Repression, fördermittelrechtlicher Sanktionierung oder gar strafrechtlicher Verfolgung betroffene Kolleg*innen insbesondere in prekären Arbeitsverhältnissen, die oftmals auch an aufenthaltsrechtliche Restriktionen gebunden sind, im Feld von Wissenschaft und Bildung sowie in der zivilgesellschaftlichen Friedensarbeit solidarisch zu unterstützen.

Nicht zuletzt stehen wir dafür ein, uns aktiv der zunehmenden Zensur und Selbstzensur zu widersetzen, wenn es darum geht, politische Konflikte, Kriege und Gewalt in all ihren Formen zu analysieren, zu theoretisieren, zu diskutieren und auch zu kritisieren.

Über den Schutz der Wissenschaftsfreiheit in Forschung und Lehre hinausgehend fordern wir unsere Regierungen und Parlamente zudem dazu auf, sich wieder verstärkt auf verfassungsrechtliche Verpflichtungen zum Frieden zu besinnen. Denn wie bereits der ehemalige Bundespräsident der BRD Gustav Heinemann 1969 feststellte: „Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr“.14 Deshalb galt ihm nicht der Krieg, sondern der Frieden als

„Ernstfall“. Es heißt also nicht weniger, sondern mehr Frieden wagen – in Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik.

Dieser Text wurde im Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) im Januar/Februar 2025 partizipativ erarbeitet und im Rahmen der AFK- Mitgliederversammlung am 20. März 2025 diskutiert. Es handelt sich NICHT um eine Stellungnahme der AFK insgesamt.


1 Deutsche UNESCO-Kommission (2017): Wissenschaftsfreiheit weltweit, https://www.unesco.de/dokumente- und-hintergruende/dokumente/dokumente-der-deutschen-unesco-kommission/wissenschaftsfreiheit- weltweit/ [30.1.2025]

2 Bund demokratischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (2024): Vorwort der Redaktion zum Thema

des Hefts „Umkämpfte Wissenschaftsfreiheit“, BdWi Studienheft 14, 4-6

3 Naomi Klein (2025): ‚The Exceptions Have Become the Rule.‘ Naomi Klein on Trump, Gaza and the End of the ‚Liberal Order‘, Interview mit Omid Memarian, https://dawnmena.org/the-exceptions-have-become-the-rule- naomi-klein-on-trump-gaza-and-the-end-of-the-liberal-order/ [30.1.2025]

4 AStA FU Berlin (2024): Ausführliche Stellungnahme zur polizeilichen Räumung des Protestcamps an der FU am 7.5.2024, https://astafu.de/node/603 [30.1.2025]

5 Kurve Wustrow (2025): Friedensorganisationen in Israel Unterstützung unterzogen, https://www.kurvewustrow.org/aktuelles/bundesregierung-friedensorganisationen-israel-unterstuetzung- entzogen [30.1.2025]

6 Allianz für Kritische und Solidarische Wissenschaft (2025): Aktivitäten, https://krisol-wissenschaft.org/ 7 European Center for Constitutional and Human Rights (2025): Staatsräson gegen Grundrechte, https://loa.ecchr.eu/podcasts/staatsrason-gegen-grundrechte/ [30.1.2025]

8 N.N. (2024): HRK kritisiert Antisemitismus-Resolution für Hochschulen, https://www.forschung-und- lehre.de/politik/hrk-kritisiert-antisemitismus-resolution-speziell-fuer-hochschulen-6772 [30.1.2025]

9 Deutscher Bundestag (2024): Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP: Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken, https://dserver.bundestag.de/btd/20/136/2013627.pdf; Bundespressekonferenz e.V. (2024): Kritik an Antisemitismusresolution, https://youtu.be/TkM4-g5bKr8?si=uz81m0BmNkBTBnq2 [30.1.2025]

10 Deutscher Bundestag (2025): Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP: Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern, https://dserver.bundestag.de/btd/20/147/2014703.pdf; Allianz für kritische und solidarische Wissenschaft (2025): Stärken statt Regulieren: Stellungnahme zum Resolutionsantrag

„Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen“ https://krisol-wissenschaft.org/wp- content/uploads/2025/01/StellungnahmeStaerkenstattRegulieren.pdf [30.1.2025]

11 Verfassungsblog (2025): Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht, https://verfassungsblog.de/die-implementation-der-ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-ins-deutsche-recht- eine-rechtliche-beurteilung/; Dis:Orient (2024): Das Problem mit der IHRA-Arbeitsdefinition, https://www.disorient.de/magazin/ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-berlin-kultur [30.1.2025]

12 BMBF (2024 ): Positionspapier Forschungssicherheit, https://www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/DE/2024/positionspapier-forschungssicherheit.html

13 Zivilklausel.de (2025): Initiative gegen das Gesetz zur Förderung der Bundeswehr insbesondere in Bayern, http://zivilklausel.de/ [30.1.2025]

14 Heinemann, Gustav (1969): Der Frieden ist der Ernstfall, https://ghdi.ghi- dc.org/pdf/deu/Chapter12Doc2NEW1.pdf [30.1.2025]