Wissenschaftsfreiheit als Prämisse von Friedens- und Konfliktforschung

Grundrechtliche Verankerung

Egal ob Forschung über oder für den Frieden: Wie jede andere Wissenschaft ist auch die Qualität und Relevanz von Friedens- und Konfliktforschung von ihren gesellschaftlichen und politischen Möglichkeitsbedingungen abhängig. Eine dieser Grundvoraussetzungen ist die in internationalem Recht ebenso wie in nationalen Verfassungen (Deutschland, Österreich, Schweiz) grundrechtlich verankerte Freiheit der Wissenschaft in Forschung und Lehre.1 Als Errungenschaft der bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts ist sie in erster Linie als Abwehrrecht gegenüber Eingriffen des Staates zu verstehen. In einer demokratischen Wissensgesellschaft hingegen muss Wissenschaftsfreiheit auch als Teilhaberecht gelebt werden, um sich ihren normativen Idealen anzunähern.2

Beide Dimensionen stehen durch historische und gegenwärtige Verstrickungen der Wissenschaften in Macht-, Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse zugleich stets zur Disposition. Diskussions- und Handlungsräume werden derzeit auch in der Friedens- und Konfliktforschung sowie in der Friedens(bildungs-)arbeit massiv eingeschränkt, indem sowohl in Wissenschaft als auch in der Politik bestimmte gegenhegemoniale Sichtweisen unter Generalverdacht gestellt und aus dem Spektrum respektabler Positionierungen ausgegrenzt werden.

Umkämpftes Terrain

Angriffe auf unliebsame Intellektuelle, Wissenschaft und Kunst bilden einst wie heute ein wesentliches Element autoritärer Wenden. Bereits seit einigen Jahren erleben insbesondere Vertreter*innen kritischer Wissenschaftstraditionen massive Be- und Verhinderungen ihrer Arbeit, wie etliche Beispiele in Feldern wie der Kritischen Migrationsforschung, den Gender Studies und den Post- bzw. Decolonial Studies verdeutlichen. Verschärft werden diese Entwicklungen im deutschsprachigen Raum insbesondere im Kontext der hochumstrittenen Kriege im Gaza und der Westbank, aber auch rund um den Krieg in der Ukraine sowie jenen der Türkei in Nordsyrien und im Nordirak: Das belegen unzählige Absagen von Veranstaltungen, Ausladungen von Vortragenden, Eingriffe in Lehrveranstaltungen, Verbote von Versammlungen, hochschulinterne und -externe Reglementierungsversuche gegenüber Lehrenden sowie Streichungen von Förderungen wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Aktivitäten in erschreckendem Ausmaß.

Hinzu kommt ein besorgniserregender Abschreckungseffekt,3 der sich in einem hochgradig prekarisierten professionellen Umfeld als Selbstzensur besonders wirksam entfaltet. Nicht zuletzt die im deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung erwogene Prüfung

strafrechtlicher wie förderrechtlicher Schritte gegen die Unterzeichner*innen eines offenen Briefes zur Wahrung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit anlässlich der Räumung eines Protestcamps im Mai 2024 setzt hier ein fatales Signal.4 Auch die Arbeit zivilgesellschaftlicher (Friedens-)Organisationen wird durch öffentliche Diffamierung diskreditiert oder gar kriminalisiert sowie durch den Entzug von Fördermitteln (wie jüngst für Kooperationen der deutschen Bildungs- und Begegnungsstätte Kurve Wustrow mit den in Israel tätigen NGOs Zochrot und New Profile) behindert.5

Instrumentalisierung von Antisemitismus

Völkerrechtliche, politische, gesellschaftliche und auch akademische Kontroversen werden in Bezug auf die jüngsten Entwicklungen in Israel/Palästina international deutlich weniger obsessiv und restriktiv geführt als im deutschsprachigen Raum, wo es offenkundig nicht nur um die Opfer politischer Gewalt, sondern oft auch um die Befindlichkeit der Mehrheitsgesellschaft geht.6 Zahlreiche internationale Kolleg*innen bezeichnen die in Deutschland, Österreich und der Schweiz verstärkt zu beobachtende Instrumentalisierung von Antisemitismus als nicht nur problematisch, sondern als provinziell. Diese leiste, so die Argumentation, einer zunehmend autoritären Weltordnung Vorschub, die weit über den aktuellen Krieg in Israel/Palästina hinausgeht.

Nicht zuletzt mit der Beschwörung der sogenannten Staatsräson – einem Konzept aus der Zeit des Absolutismus,7 das einem demokratischen Politikverständnis diametral entgegensteht und zugleich die autoritäre Wende nach innen flankiert – wird nicht nur gegen demokratisch- liberale Prinzipien wie Wissenschafts- und Versammlungsfreiheit, sondern etwa mit Waffenlieferungen auch gegen Völkerrecht wie z.B. den Arms Trade Treaty verstoßen.

Antisemitismus-, Holocaust- und Genozidforscher*innen, darunter auch zahlreiche jüdische Intellektuelle, weisen darauf hin, dass die verstärkten Interventionen der deutschen, schweizerischen und österreichischen Bundesregierungen, aber auch etlicher Leitungsgremien von Universitäten, Hochschulen, Schulen und anderer Bildungseinrichtungen in krassem Gegensatz zu internationalem Recht und zur von unseren Vorgänger*innen hart erkämpften Freiheit der Wissenschaft in Forschung und Lehre stehen. Die forcierte Repression stellt ein wirksames Mittel gegenüber kritischer Forschung, Bildung und Öffentlichkeit dar. Sogar die eher konservative Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in Deutschland sorgt sich mit Blick auf die Resolution des Bundestags zu Antisemitismus an Schulen und Hochschulen um Hochschulautonomie und Wissenschaftsfreiheit.8

Im deutschsprachigen Raum wurden bislang überwiegend in anderen disziplinären Feldern als der Friedens- und Konfliktforschung Stellungnahmen gegen repressionsfördernde Instrumente wie die beiden deutschen Bundestagsresolutionen „Nie wieder ist jetzt: jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“9 bzw. „Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern“10 erarbeitet. Gerade für die Friedens- und Konfliktforschung und kritische Bildungsarbeit ist es selbstverständlich, Antisemitismus ebenso wie jeder anderen Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unmissverständlich entgegenzutreten. Doch

beide genannten Resolutionen basieren auf der unbestimmten und missbrauchsanfälligen Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA).11 Mit ihrer Hilfe lassen sich jegliche Kritik an der Politik Israels und sogar bestimmte Fachbegriffe bzw. Theorieperspektiven leicht als antisemitisch brandmarken, – eine Anschuldigung, die Organisationen und Projekte ihre Förderwürdigkeit, Menschen ihre berufliche Existenz kosten kann.

Ein anderes Beispiel für die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit in Forschung und Lehre im Zuge der autoritären Wende ist das „Positionspapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Forschungssicherheit im Lichte der Zeitenwende“12 sowie das „Gesetz zur Förderung der Bundeswehr“13 insbesondere an Bildungseinrichtungen. Beide wurden in der zivilgesellschaftlichen und studentischen Initiative der Zivilklauselbewegung offensiv kritisiert. Auch wenn sie in keinem direkten Zusammenhang mit der Debatte um Staatsräson und Erinnerungskultur stehen, ist die zunehmende Indienstnahme von Bildung und Wissenschaft für eine breit eingeforderte neue „Kriegstüchtigkeit“ darin deutlich erkennbar.

Verantwortung der Friedens- und Konfliktforschung

Ungeachtet unterschiedlicher theoretischer Perspektiven und konkreter Forschungsschwerpunkte geht es uns als Friedens- und Konfliktforscher*innen um die Wahrung und demokratische Weiterentwicklung der Freiheit der Wissenschaften in Forschung und Lehre. Autoritative Eingriffe der Politik zur Entscheidung wissenschaftlicher Kontroversen, wie im Falle der Antisemitismus-Definition geschehen, sind mit diesem Ziel unvereinbar. Dasselbe gilt für die Forderung nach verstärkter Zuarbeit zu Krieg und Militarismus in (Hoch-)Schulen, Universitäten und Zivilgesellschaft.

In diesem Sinne fordern wir politische Entscheidungsträger*innen auf, weitere Restriktionen in Wissenschaft und Bildung zu unterlassen und bisher erfolgte Vorstöße zurückzunehmen. Vielmehr gilt es, Universitäten, Hochschulen und Bildungseinrichtungen als lebendige Diskursräume zu gestalten und nicht zuletzt auch damit Frieden zu fördern. Wir ermutigen einander und unsere Kolleg*innen in Institutionen von Wissenschaft und Bildung, Einschränkungen der Freiheit von Wissenschaft in Forschung und Lehre etwa auf Basis der Instrumentalisierung von Antisemitismus genauso entschieden entgegenzutreten wie Antisemitismus und anderen Formen von Diskriminierung, aber auch der zunehmenden Indienstnahme der Hochschulen und Universitäten für militärische Zwecke und einer innergesellschaftlich verstärkten Repression gegenüber Meinungs-, Versammlungs- und Wissenschaftsfreiheit.

Als Friedens- und Konfliktforscher*innen treten wir dafür ein, von Einschüchterung, Repression, fördermittelrechtlicher Sanktionierung oder gar strafrechtlicher Verfolgung betroffene Kolleg*innen insbesondere in prekären Arbeitsverhältnissen, die oftmals auch an aufenthaltsrechtliche Restriktionen gebunden sind, im Feld von Wissenschaft und Bildung sowie in der zivilgesellschaftlichen Friedensarbeit solidarisch zu unterstützen.

Nicht zuletzt stehen wir dafür ein, uns aktiv der zunehmenden Zensur und Selbstzensur zu widersetzen, wenn es darum geht, politische Konflikte, Kriege und Gewalt in all ihren Formen zu analysieren, zu theoretisieren, zu diskutieren und auch zu kritisieren.

Über den Schutz der Wissenschaftsfreiheit in Forschung und Lehre hinausgehend fordern wir unsere Regierungen und Parlamente zudem dazu auf, sich wieder verstärkt auf verfassungsrechtliche Verpflichtungen zum Frieden zu besinnen. Denn wie bereits der ehemalige Bundespräsident der BRD Gustav Heinemann 1969 feststellte: „Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr“.14 Deshalb galt ihm nicht der Krieg, sondern der Frieden als

„Ernstfall“. Es heißt also nicht weniger, sondern mehr Frieden wagen – in Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik.

Dieser Text wurde im Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) im Januar/Februar 2025 partizipativ erarbeitet und im Rahmen der AFK- Mitgliederversammlung am 20. März 2025 diskutiert. Es handelt sich NICHT um eine Stellungnahme der AFK insgesamt.


1 Deutsche UNESCO-Kommission (2017): Wissenschaftsfreiheit weltweit, https://www.unesco.de/dokumente- und-hintergruende/dokumente/dokumente-der-deutschen-unesco-kommission/wissenschaftsfreiheit- weltweit/ [30.1.2025]

2 Bund demokratischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (2024): Vorwort der Redaktion zum Thema

des Hefts „Umkämpfte Wissenschaftsfreiheit“, BdWi Studienheft 14, 4-6

3 Naomi Klein (2025): ‚The Exceptions Have Become the Rule.‘ Naomi Klein on Trump, Gaza and the End of the ‚Liberal Order‘, Interview mit Omid Memarian, https://dawnmena.org/the-exceptions-have-become-the-rule- naomi-klein-on-trump-gaza-and-the-end-of-the-liberal-order/ [30.1.2025]

4 AStA FU Berlin (2024): Ausführliche Stellungnahme zur polizeilichen Räumung des Protestcamps an der FU am 7.5.2024, https://astafu.de/node/603 [30.1.2025]

5 Kurve Wustrow (2025): Friedensorganisationen in Israel Unterstützung unterzogen, https://www.kurvewustrow.org/aktuelles/bundesregierung-friedensorganisationen-israel-unterstuetzung- entzogen [30.1.2025]

6 Allianz für Kritische und Solidarische Wissenschaft (2025): Aktivitäten, https://krisol-wissenschaft.org/ 7 European Center for Constitutional and Human Rights (2025): Staatsräson gegen Grundrechte, https://loa.ecchr.eu/podcasts/staatsrason-gegen-grundrechte/ [30.1.2025]

8 N.N. (2024): HRK kritisiert Antisemitismus-Resolution für Hochschulen, https://www.forschung-und- lehre.de/politik/hrk-kritisiert-antisemitismus-resolution-speziell-fuer-hochschulen-6772 [30.1.2025]

9 Deutscher Bundestag (2024): Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP: Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken, https://dserver.bundestag.de/btd/20/136/2013627.pdf; Bundespressekonferenz e.V. (2024): Kritik an Antisemitismusresolution, https://youtu.be/TkM4-g5bKr8?si=uz81m0BmNkBTBnq2 [30.1.2025]

10 Deutscher Bundestag (2025): Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP: Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern, https://dserver.bundestag.de/btd/20/147/2014703.pdf; Allianz für kritische und solidarische Wissenschaft (2025): Stärken statt Regulieren: Stellungnahme zum Resolutionsantrag

„Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen“ https://krisol-wissenschaft.org/wp- content/uploads/2025/01/StellungnahmeStaerkenstattRegulieren.pdf [30.1.2025]

11 Verfassungsblog (2025): Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht, https://verfassungsblog.de/die-implementation-der-ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-ins-deutsche-recht- eine-rechtliche-beurteilung/; Dis:Orient (2024): Das Problem mit der IHRA-Arbeitsdefinition, https://www.disorient.de/magazin/ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-berlin-kultur [30.1.2025]

12 BMBF (2024 ): Positionspapier Forschungssicherheit, https://www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/DE/2024/positionspapier-forschungssicherheit.html

13 Zivilklausel.de (2025): Initiative gegen das Gesetz zur Förderung der Bundeswehr insbesondere in Bayern, http://zivilklausel.de/ [30.1.2025]

14 Heinemann, Gustav (1969): Der Frieden ist der Ernstfall, https://ghdi.ghi- dc.org/pdf/deu/Chapter12Doc2NEW1.pdf [30.1.2025]

Keine neue Ära der Aufrüstung! Wir brauchen Investitionen für Klima, Frieden und Zukunft

Aufrüstung ist der falsche Weg

Die Europäische Politik folgt weiter der Kriegslogik. Am 4. März 2025 verkündete die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, eine neue Ära der Aufrüstung und versprach Militärausgaben von 800 Milliarden Euro. Am gleichen Tag kündigten in Deutschland CDU/CSU und SPD das Ergebnis ihrer Sondierungsgespräche an: neben einem zivilen Infrastrukturpaket von begrenzten 500 Milliarden Euro soll der alte Bundestag über eine Grundgesetzänderung abstimmen, um unbegrenzte militärische Investitionen von der Schuldenbremse auszunehmen. Großbritannien stellt ebenfalls einen großen Betrag für noch mehr Rüstung bereit, und der französische Präsident wirbt für eine europäische Ausweitung der nuklearen Abschreckung.

Aufrüstung untergräbt Demokratie und Frieden

Während die Beendigung des Ukrainekrieges möglich erscheint und Rüstungskontrolle zwischen den USA, Russland und China in Aussicht gestellt wird, wollen vor allem Europas Regierungen die Militärausgaben steigern, wodurch die Friedens- und Abrüstungsversprechen torpediert werden. Den Brandstiftern mehr militärische Mittel zu geben (bis zu Atomwaffen) erschwert die Bewältigung der heutigen Krisen. Eine gewachsene „Kriegstüchtigkeit“ könnte bei kommenden Wahlen in die Hände rechtsradikaler Regierungen fallen. Unbegrenzte Rüstungsausgaben erhöhen unsere Sicherheit nicht, sondern fördern das Wettrüsten und bringen uns einem Weltkrieg näher. Wer aufrüstet, führt auch irgendwann Krieg. In Deutschland und Europa den Weg der Aufrüstung zu beschreiten, untergräbt unsere gefährdete Demokratie weiter und schadet einem zukunftsfähigen Frieden.

Aufrüstung zerstört unsere Zukunft

Eine Vision für Europa fehlt – jenseits eines Siegfriedens durch weitere Opfer der ukrainischen und russischen Bevölkerung.  Eine Militarisierung der Wissenschaft und Kürzungen im Umwelt- und Sozialbereich nehmen der jüngeren Generation die Zukunftsperspektive auf saubere Umwelt, gute Bildung, gleichberechtigte Teilhabe und faire Arbeitsbedingungen. Rüstung forciert einen Klimawandel, der unsere Lebensgrundlagen zerstört und schafft Zukunftsschulden, die ökonomisch nicht zu ermessen sind.

Die wirtschaftlich und geopolitisch getriebene Konfrontationspolitik hat ausgedient. Gewaltfreie Reaktionen auf wahrgenommene Bedrohungen sind nicht erschöpft, sondern wurden und werden vernachlässigt. Wir brauchen keine Kriege mehr, kein zusätzliches Geld für Rüstung und erst recht keine Atombomben. Wir brauchen alle Ressourcen für ein gutes Leben für alle. Es gibt keine zweite Erde. Jetzt besteht noch eine letzte Chance für Politik und Diplomatie auf eine Friedensunion Europa. Nutzen wir sie!

Wir wenden uns gegen den enthemmten Aufrüstungs- und Kriegskurs und stehen für einen fundamentalen Politikwechsel in Deutschland und Europa. Europa hat seit seiner Gründung erneut die historische Chance und Pflicht zu einem Friedens- und Zukunftsbündnis zu werden. Wir setzen uns für Zukunftsperspektiven ein, die sich an Friedenslogik und Nachhaltigkeit orientieren.

Wir rufen alle Menschen in Deutschland und in Europa auf, gemeinsam unsere Stimmen gegen diesen Kurs der Aufrüstung und für eine neue Friedensarchitektur in Europa zu erheben.

Ökozid – Zwischen Klimaklagen und Verbrechen gegen den Frieden

VON JÜRGEN SCHEFFRAN

Die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit werden durch Klimawandel und Umweltzerstörung bedroht, die friedensgefährdende Ökozide mit sich bringen können. Seit fünf Jahrzehnten gibt es Bestrebungen, schwerwiegende Umweltverbrechen im Rahmen des Völkerrechts zu regulieren. Im Kontext der jüngsten Debatte über Klimaklagen und die Rechte der Natur eröffnen sich neue Perspektiven, um auf verschiedenen Ebenen des internationalen Systems mit rechtlichen Mitteln Umweltschutz und Friedenssicherung zusammenzubringen.

Die Energiewende als Beitrag zur Resilienzstärkung und Friedenssicherung in Europa

Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine droht die menschengemachte Erderhitzung und die Gestaltung einer klimagerechten Zukunft aus dem Blick geraten zu lassen. Wir führen in diesem Diskussionsbeitrag aus, welche Probleme sich aus der aktuell verfolgten Energiepolitik ergeben haben und welche sich daraus zukünftig ergeben können. Weiterhin argumentieren wir, dass eine konsequente Wende der Europäischen Union zu einer dezentralen, regenerativen Energieversorgung ein entscheidender Baustein zur europäischen Sicherheit und ein wichtiger Beitrag zu einer nachhaltigen und resilienten Friedenssicherung ist. Vor diesem Hintergrund empfehlen wir: 1. die soziale Gerechtigkeit in den Fokus zu rücken; 2. die Verfügbarkeit kritischer Rohstoffe für erneuerbare Energiesysteme sicherzustellen; 3. europäische Produktionskapazitäten für regenerative Energiesysteme (wieder-)aufzubauen; 4. Resilienz nicht durch vermeidbare Energieimporte zu gefährden; 5. Resilienz durch Dezentralisierung und Regionalisierung der Energieinfrastruktur zu stärken; 6. Sicherheitsprobleme zu vermeiden, die mit Smart Grids verbunden sind; 7. eine breite wirtschaftliche Teilhabe an erneuerbaren Energiesystemen zu fördern.

Brendel, H., Bohn, F.J., Crombach, A., Lukas, S., Scheffran, J., Baumann, F., Elverfeldt, K. von, Finckh-Krämer, U., Hagedorn, G., Hardt, J., Kroll, S., Linow, S., Stelzer, V. (2023). Die Energiewende als Beitrag zur Resilienzstärkung und Friedenssicherung in Europa. Diskussionsbeiträge der Scientists for Future 14 (27.02.2023), 15 Seiten. doi: 10.5281/zenodo.765795

Offener Brief: Ein Moratorium für die Räumung von Lützerath

Eine Gruppe von WissenschaftlerInnen der Scientists for Future (S4F) hat in einem Offenen Brief an den Ministerpräsidenten von NRW, die Stellvertretende Ministerpräsidentin und den verantwortlichen Ressort-Minister dazu aufgerufen, die Räumung von Lützerath mit einem Moratorium zu stoppen. Innerhalb von weniger als 24 Stunden unterzeichneten über 500 WissenschaftlerInnen das Schreiben.

Text des Offenen Briefs:

An
Herrn Hendrik Wüst, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen,
Frau Mona Neubaur, Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie und stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen,
Herrn Herbert Reul, Minister des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen

Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen wir es als unsere Pflicht an, auf die Konsequenzen einer Räumung von Lützerath hinzuweisen.

Wir stellen die Frage nach den gesellschaftlichen Kosten einer erzwungenen Räumung. Welche Wirkung hat die Räumung im Hinblick auf die Glaubhaftigkeit der deutschen Klimapolitik? Lützerath ist ein Symbol geworden. Es geht um ein aussagekräftiges Zeichen für die notwendige Abkehr vom fossilen Zeitalter. 

Es gibt substanzielle wissenschaftliche Zweifel an der akuten Notwendigkeit einer Räumung. Mehrere wissenschaftliche Gutachten [1,2, 3, 4, 7] kommen zu dem Schluss, dass ein Abbau der Braunkohle unter Lützerath für eine technische Versorgungssicherheit und Netzstabilität nicht nötig, sondern politisch bestimmt ist. Vielmehr steht die Förderung und Verstromung dieser Kohle einer am Pariser Klimaabkommen und dem europäischen Klimagesetz ausgerichteten Energiepolitik entgegen. Die Verschärfung des europäischen Emissionshandels vom 18.12.2022 auf minus 62 Prozent THG-Emissionen im Stromsektor bis 2030 (bezogen auf 1990) lässt mindestens fraglich erscheinen, ob Kohleverstromung in Deutschland bis 2030 noch wirtschaftlich sein wird [5].

Der Umstiegspfad auf erneuerbare Energien sollte sich somit insbesondere an einem deutschen und europäischen CO₂-Budget ausrichten, das mit den Klimazielen von Paris im Einklang steht und ethisch vertretbar ist [6].

Wir empfehlen ein Moratorium der Räumung.

Dieses bietet die Chance für einen transparenten Dialogprozess mit allen Betroffenen zur Entwicklung von zukunftsfähigen Pfaden der gesellschaftlichen Transformation und Zeit für die Überprüfung der zugrunde liegenden Entscheidungsprämissen. Die Glaubwürdigkeit der deutschen Klimapolitik würde wesentlich gestärkt werden – international und besonders bei der jungen Generation.

Literatur

[1] Nicolas Leicht & Philipp Hesel 2022. https://www.bund-nrw.de/fileadmin/nrw/dokumente/braunkohle/221128_EBC_Aurora_Kohleausstiegspfad_und_Emissionen_as_sent.pdf

[2] Catharina Rieve, Philipp Herpich, Luna Brandes, Pao-Yu Oei, Claudia Kemfert und Christian von Hirschhausen 2021, https://www.diw.de/de/diw_01.c.819607.de/publikationen/politikberatung_kompakt/2021_0169/kein_grad_weiter_-_anpassung_der_tagebauplanung_im_rheinisch___-grad-grenze__im_auftrag_von_alle_doerfer_bleiben__kib_e.v..html 

[3] Philipp Herpich, … Pao-Yu Oei. 2022: https://coaltransitions.org/publications/das-rheinische-braunkohlerevier/

[4] Philipp Herpich, Catharina Rieve, Pao-Yu Oei, Claudia Kemfert 2022: https://vpro0190.proserver.punkt.de/s/K43yiKR4Yz3Xxeg

[5] Europäische Kommission. „Fit für 55“: Rat und Parlament erzielen vorläufige Einigung zum Emissionshandelssystem der EU und zum Klima-Sozialfonds. Pressemitteilung vom 18. Dezember 2022 https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2022/12/18/fit-for-55-council-and-parliament-reach-provisional-deal-on-eu-emissions-trading-system-and-the-social-climate-fund/ 

[6] Sachverständigenrat für Umweltfragen 2022. https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/04_Stellungnahmen/2020_2024/2022_06_fragen_und_antworten_zum_co2_budget.pdf, siehe zur Übersicht Abbildung 2 und 4, Tabelle 1.

[7] Aurora Energy Research 2022. https://kohlecountdown.de/wp-content/uploads/2022/12/Aurora-Kohleausstiegspfad-und-Emissionen_01122022.pdf 

Friedenslogik statt Kriegslogik – Handlungsoptionen hin zu einer sozial-ökologischen Transformation

Online-Veranstaltung

Freitag, den 25. November | 18:00-20:00 Uhr | online via Zoom

Von der Irrealisierung über die Moralisierung zur strukturellen Faschisierung der Diskurse: Die Debatte um den Ukraine-Konflikt und ihre Vorläufer

Rainer Fischbach (Arbeitet als Softwareexperte in der Industrie, lehrte Informatik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und forschte zur militärischen Technologiefolgen-abschätzung als Mitglied der Working Group Peace Research and European Security)

Von der Kriegslogik zur Friedenslogik: Zeitenwende zum nachhaltigen Frieden

Prof. Dr. Jürgen Scheffran (NatWiss, Universität Hamburg)

CETA: Sargnagel für Demokratie und Klima

Dr. Sibylle Brosius (NatWiss)

Nato-Osterweiterung, Aufrüstung der Ukraine durch Nato-Mitgliedsstaaten, Ignoranz gegenüber russischen und gemeinsamen europäischen Sicherheitsinteressen, Zerstörung der Rüstungskontrolle, vornehmlich durch die USA; Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine (wie jeder Angriffskrieg völkerrechtswidrig) ist der vorläufige Höhepunkt einer kriegerischen Eskalationsspirale erreicht. Nun stehen wir vor der Drohkulisse eines Atomkrieges, die wiederholte Erwähnung der Möglichkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen rückt die menschliche Zivilisation wie wir sie kennen an den Rand der Auslöschung. Die Doomsday Clock des Bulletins of Atomic Scientists steht 100 Sekunden vor Mitternacht. Die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen ist in eine neue Phase getreten. In dieser Phase wird Realität, wovor bisher nur gewarnt wurde:

In der Transformation von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt werden militärische Mittel zur Sicherung von Eigeninteressen, Ressourcenzugängen und Einflusssphären angewandt. Der Frieden der „kannibalischen Weltordnung“ (Jean Ziegler) folgt der anti-politischen Logik des Krieges: eine Dynamik von Konkurrenz, Aufrüstung, Sanktionen und diplomatischer Eskalation. Es gibt nur noch Gut und Böse, Freund und Feind. Der Feind muss besiegt werden, es darf zu keinem anderen Ergebnis dieser Konfrontation kommen. Dem wird alles untergeordnet, auch wirtschaftliche Interessen, Welternährung und Menschenrechte. Eine „Zeitenwende“ soll die Kriegslogik rechtfertigen, die an die Stelle von Politik tritt: Vergangenheit, Zukunft, Kooperation, Kompromiss und das Verhandeln berechtigter Interessen werden bedeutungslos.

In krassem Gegensatz dazu befinden wir uns in einer noch nie dagewesen, multiplen Krise: rasantes Artensterben, frühere Kipppunkte des Klimas als angenommen, Entdemokratisierung. Im Anthropozän steht die Zukunft des menschlichen Lebens auf dem Spiel. Wichtige Schritte hin zum Schutz unseres Planeten vor den Auswirkungen der Wachstumsgesellschaft werden rückgängig gemacht, um kurzfristige Interessen durchzusetzen. Um diesen „Krieg gegen unseren Planeten“ (Altvater/Mahnkopf) zu beenden, braucht es eine Wende hin zu globalen, politischen Lösungen auf Grundlage der Friedenslogik.

In dieser Veranstaltung sollen die Prämissen der Kriegslogik anhand aktueller Beispiele analysiert und dargestellt sowie ihre Entstehung entlang von Einzelinteressen einer wachstumsabhängigen Minderheit nachvollzogen werden. Es werden Handlungsalternativen hin zu einer Friedenslogik und einer sozial-ökologischen Transformation der Demokratisierung vorgestellt und diskutiert. Die Ergebnisse werden Ausgangspunkt weiterer Veranstaltungen sein.

Programm:

18:00 Uhr | Technische Hinweise

18:05 Uhr| Einleitung Malte Albrecht (NatWiss)

18:15 Uhr | Einleitende Beiträge
Moderation: Malte Albrecht (NatWiss)

Von der Irrealisierung über die Moralisierung zur strukturellen Faschisierung der Diskurse: Die Debatte um den Ukraine-Konflikt und ihre Vorläufer
Rainer Fischbach (Arbeitet als Softwareexperte in der Industrie, lehrte Informatik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und forschte zur militärischen Technologiefolgen-abschätzung als Mitglied der Working Group Peace Research and European Security)

Von der Kriegslogik zur Friedenslogik: Zeitenwende zum nachhaltigen Frieden
Prof. Dr. Jürgen Scheffran (NatWiss, Universität Hamburg)

CETA: Sargnagel für Demokratie und Klima
Dr. Sibylle Brosius (NatWiss)

19:15 Uhr | Diskussion

20:00 | Schluss

Die NatWiss Online-Veranstaltung fand am 25.11.22 ab 18 Uhr online via Zoom statt.

Science groups launch petition urging journal publisher to share plan for halting anti-climate practices

SGR and UCS call on scientists to support our campaign on Elsevier’s fossil fuel industry links.

The Union of Concerned Scientists (UCS) and Scientists for Global Responsibility (SGR) today launched a petition requesting a formal response from Elsevier and its parent company RELX that outlines how they intend to meet their commitments as a member of the UN Race to Zero campaign. As a signatory of this campaign, Elsevier—which publishes nearly 3,000 journals accounting for about 15% of all academic publishing—pledged to halt the facilitation of new fossil fuel assets and ensure their external activities are aligned with the goal of reaching net-zero heat-trapping emissions by 2050.

“The scientific realities of the climate crisis are undeniable in the peer-reviewed literature,” said Dr Kristina Dahl, a principal climate scientist with UCS and a signatory to the petition. “It’s time for the companies publishing these journals to walk the talk and align their actions with what is outlined in the global Paris climate agreement as that’s what the science demands. Elsevier has already taken the first step by signing onto the U.N.’s Race to Zero pledge, now they need to publicly declare the actions they will take to meet that commitment.” A related blogpost by Dr Dahl can be found here.

The petition emphasized activities Elsevier and RELX currently undertake that should be halted for the betterment of the climate, including:

  • Providing fossil fuel industry-oriented research and development, as well as data services, used by most top oil, gas, and coal companies
  • Lobbying and financially supporting U.S. politicians who block climate action
  • Disseminating content, informing practices and techniques, and providing information and resources related to expansion of fossil fuel exploration
  • Hosting coal, offshore drilling, and other industry exhibitions that enable participants to grow their businesses and boost fossil fuel production

Petition: Demand that Elsevier Cut Ties with the Fossil Fuel Industry

Elsevier is one of the biggest names in academic publishing, operating more than 2,700 scientific, technical, and medical journals in which scientific research is peer-reviewed and published. While Elsevier and its parent company tout the important research they publish on climate science and publicly claim to be committed to a clean energy future, their practices tell a very different story.

Earlier this year, The Guardian ran a powerful article exposing the ties of Elsevier to the fossil fuel industry and other business activities that are antithetical to meeting the kind of climate goals science tells us we need in order to reduce the worst impacts of climate change.

We think Elsevier can do better. As a member of the scientific community, your voice carries weight.

Add your name to the letter: Demand that Elsevier better align its business practices with its publicly stated values and pledges.

Fehlgeleitete Debatte – Klimakrise als Steigbügelhalter der Atomenergie?

von Franz Fujara und Ernst Rößler

Die Klimakrise ist und wird ein zukünftiger Konflikttreiber sein; die Gefahren, die von ihr ausgehen, sind außerordentlich. Bei den Debatten um Anpassung, Technologietransfer und Treibhausgasreduktionen wird jedoch überraschenderweise immer wieder die Atomenergie als mögliche (temporäre) Lösung genannt. Der Beitrag thematisiert die damit einhergehenden Fehlschlüsse und regt dazu an, grundlegender zu denken – gerade auch angesichts des Ukrainekrieges.

Ein Sommer von außerordentlicher Hitze, bisher unbekannter Dürre und europaweiter Waldbrände steckt uns noch in den Knochen. Waren das weitere Boten des Klimawandels infolge der Erwärmung der Erdatmosphäre? Was werden wir erst sagen, wenn wir in Brandenburg kein Getreide mehr anbauen können oder der Rhein nicht mehr schiffbar ist? Sind das die prophezeiten Kipppunkte, nach denen nichts mehr so sein wird wie früher?

UmweltexpertInnen sind nicht überrascht, sie haben es erwartet. Klar ist ihnen auch, dass die notwendige Dekarbonisierung unseres gesellschaftlichen Lebens so schnell wie eben möglich in Angriff genommen werden muss. Denkfabriken haben die Marschrouten bis hin zu den zu erwartenden Kosten festgelegt. Der Nobelpreisträger für Ökonomie, Joseph Stiglitz, verkündete gar: „Der Klimawandel ist unser Dritter Weltkrieg“ (Stiglitz 2019). So war die Hoffnung groß, dass nach 16 Jahren umweltpolitischer Versäumnisse die neue rot-gelb-grüne Regierung die heißen Eisen der Umweltpolitik endlich anpacken würde – und sie hat es im Koalitionsvertrag versprochen.

CO2-Reduktion im Mittelpunkt

Im Mittelpunkt steht die Menge an Kohlendioxid (CO2), dem wichtigsten Treibhausgas, die noch emittiert werden darf. Das seit ca. 250 Jahren[i] durch verstärkte Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas entstandene CO2 sammelt sich in der Atmosphäre an, was den Temperaturanstieg auf der Erde verursacht. Es gibt deshalb nur einen Ausweg, der globalen Überhitzung zu entkommen: Wir müssen die Verbrennung fossiler Energieträger praktisch auf Null zurückfahren. Es wird uns im Wesentlichen nur die Energie der Sonneneinstrahlung (und ihrer sekundären Effekte) bleiben[ii], so wie vor dem Einsatz der Dampfmaschine.

Um den Temperaturanstieg auf noch verträgliche 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen, hat der Weltklimarat die für Emissionen noch zur Verfügung stehende Menge an CO2 global ermittelt. Für Deutschland gibt es dazu seitens des Sachverständigenrates für Umweltfragen mehrere Stellungnahmen in den letzten Jahren und auch das Bundesverfassungsgericht zog das CO2-Budget als Maßstab für die Bewertung der Klimapolitik des Bundes heran. Danach bleiben uns noch ca. zwei Milliarden Tonnen CO2, die bis 2027 ausgestoßen werden dürfen. Anders formuliert: Von einem derzeitigen jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von ca. zehn Tonnen CO2 müssen wir auf unter eine Tonne kommen und das bis 2027. Dieses Datum ist verdammt nah und erlaubt keinen Umweg, keine »Übergangstechnologien« und insbesondere kein Weiter-so. Ohne Zweifel eine Herkulesaufgabe!

Veränderte Situation, falsche Reaktionen

Der Ukrainekrieg stellt alle diese Vorhaben und Vorsätze auf den Kopf. Wenn man vor Putins Angriff von einer Notstandssituation sprach, dachte man an den Klimanotstand – eine beträchtliche Zahl von Kommunen riefen ihn übrigens sogar formell aus. Jetzt erfährt dieser Begriff eine völlige Umdeutung: alles dreht sich um die Verteidigung des Status Quo. Trotz drohender Kipppunkte im Erdsystem, trotz Hitze und Dürre wird damit die Abkehr vom bisherigen Wohlstandsmodell und insbesondere von fossilen Energien vertagt. Statt Alternativen voranzubringen wird auf wiederhergestellte Importe über die Pipeline » Nord Stream 1« gehofft, werden Terminals für Flüssiggas ausgebaut und Kohlekraftwerke wieder hochgefahren. Auch ohne den Krieg wäre die Dringlichkeit der Transformation nicht kleiner gewesen und ihre Umsetzung würde der Ukraine sogar eher (unmilitärisch) helfen.

Von der in Deutschland insgesamt aus der Gasverbrennung bereitgestellten Energie geht etwa ein Drittel in die Industrie. Aber es kann doch kein Staatsziel sein, die industriellen Hauptabnehmer von Gas, die Chemie-, die Papier- und die Glasbranche, in ihrer derzeitigen Form unbesehen zu erhalten. Denn wenn mit Hilfe von Gas zu einem großen Teil ökologisch schädliche oder verzichtbare Produkte hergestellt werden, dann muss eine Produktionsumstellung oder gar ein Rückbau dieser Bereiche vorgenommen werden (Meier und Hofmann 2022).

Der größte industrielle Gasverbraucher ist die Chemische Industrie. Ein Teil des Gases wird zur Herstellung von Stickstoffdünger genutzt. Aber war nicht geplant, das Ausbringen von Dünger deutlich zu reduzieren? Von den neun wissenschaftlich etablierten »planetarischen Grenzen« – u.a. Temperatur der Erdoberfläche, Frischwasserversorgung, Ozongehalt der Atmosphäre – überschreiten der jetzt schon eingebrachte Phosphor und Stickstoff die entsprechende Grenze deutlich (siehe Abbildung).

Ein weiterer Teil des Gases wird für die Kunststoffproduktion eingesetzt. Doch brauchen wir die bisherigen Mengen? Die toten Zonen in den Ozeanen werden immer größer, Mikroplastik ist überall. Dabei wäre es beispielsweise ein Leichtes, recyclebare Verpackungen per Gesetz einzuführen.

Entsprechendes gilt für die Glasindustrie. Ein Großteil der Produktion besteht aus Getränkeflaschen und Gläsern für Nahrungsmittel. Eine konsequente Pfandpflicht würde schnell den Gasverbrauch reduzieren.

Noch grundsätzlicher: Wenn unsere Autos, Kühlschränke, Wachmaschinen und Handys langlebiger wären, dann könnte ihre Produktion entsprechend zurückgefahren werden. Hinzukommen könnten kurzfristig umsetzbare Maßnahmen wie eine Beschränkung der Ladenöffnungszeiten, ein begrenzter Gebrauch von Klimaanlagen, Reduzierung der städtischen Beleuchtung usw. – und ein Tempolimit. Allen an der politischen Umsetzung Beteiligten war ohnehin klar, dass der ökologische Umbau strukturelle wie persönliche Kosten verursachen wird, also Sparen angesagt ist.

CO2-Reduktion durch Atomkraft?

Doch jetzt gerät stattdessen sogar der Atomausstieg ins Wanken. Einige sprechen von Streckbetrieb, andere von einer mehrjährigen Laufzeitverlängerung der noch nicht abgeschalteten AKW. Verwegene fordern gar AKW-Neubauten. Solche Forderungen kommen vor allem von denjenigen, die den Ausstiegsbeschluss im Grunde nie wirklich akzeptiert hatten, die den Ausbau der Erneuerbaren Energieträger am wenigsten forciert haben und die jetzt angesichts der Gaskrise die Chance einer »Renaissance der Kernenergienutzung« wittern. Ob die unter Wirtschaftsminister Habeck geplante Streckung des Betriebs zweier AKW das letzte Wort in Sachen Atomenergie ist, bleibt daher fraglich.

Lassen wir im Lichte dieser Debatte die Probleme bzw. vermeintlichen Vorzüge der Atomenergie noch einmal Revue passieren. Die grundsätzlichen BefürworterInnen der Kernenergie bringen dafür im Wesentlichen drei Argumente vor: Atomenergie ist CO2-frei, sicher und lässt auf neue vielversprechende Reaktortypen hoffen.

Beginnen wir von hinten:

Neue Reaktortypen werden seit Jahrzehnten diskutiert, Versuchstypen verschlangen enorme Geldsummen, ihre erfolgreiche Erprobung ist bislang nie gezeigt worden und sie kämen für die Bewältigung der Klimakrise zu spät. Auch die sogenannten »Small Modular«-Reaktoren[iii] werfen mehr neue Probleme auf als sie alte lösen, und die Fusionsenergie käme, wenn überhaupt jemals, viel zu spät.

Die Gefahr einer großen Havarie (GAU) und ihrer Folgen ist weiterhin das größte Problem der Atomenergienutzung, wenngleich sich BefürworterInnen und GegnerInnen in ihrer Beurteilung stark unterscheiden. Festzustellen bleibt aber, dass ein intrinsisch sicherer Reaktortyp nicht existiert und dass die bisherigen Unglücke neben den großen Opfern an menschlichem Leben, Natur und Umwelt exorbitante finanzielle Kosten verursachen. So werden Kosten aller Hinterlassenschaften für die Entsorgung der verstrahlten Abfälle und Gebäude von Fukushima auf mehrere hundert Milliarden US$ geschätzt (Vettese und Pendergras 2022). Unabhängig davon bleiben die gewaltigen Probleme des Uranbergbaus, der zivil-militärischen Ambivalenz und der Endlagerung. Hinzu kommt, dass sich Planung und Bau neuer Atommeiler über Jahrzehnte hinzieht und zu extrem teuren Anlagen führt.

Damit kommen wir zur Frage, wie hoch die tatsächliche CO2-Emission eines AKW ist, und zwar der gesamten technischen Prozesskette, beginnend mit dem bergmännischen Uran-Abbau bis hin zum Endlager und Rückbau. Diese Frage wird in der Öffentlichkeit in der Regel schnell beantwortet: AKW sind CO2-frei, heißt es – dies sei ihr entscheidender Vorteil, um mit der Klimakrise zurechtzukommen! Aber ist das wirklich so?

Die von der IPCC ermittelten Rahmenbedingungen kann man auf die noch zulässige CO2-Menge (in g) pro erzeugter elektrischer Energiemenge (in kWh) herunterrechnen. Klimamodelle kommen für die Einhaltung des 2-Grad-Ziels auf einen nicht zu überschreitenden Emissionswert von ca. 15 gCO2/kWh (Vettese und Pendergras 2022). Um diesen Wert einschätzen zu können, ein Beispiel eines Berliner Wohnblocks mit ca. 20 Wohneinheiten: Der Betrieb der Ölheizung verursacht einen jährlichen Verbrauch von 320.000 kWh, die mit einer Emission von ca. 100 Tonnen CO2 verbunden ist. Das entspricht etwa 300 gCO2/kWh, also einem um den Faktor 20 zu hohen Wert. Zurzeit bietet der Anschluss an die Berliner Fernheizung einen erstaunlich niedrigen Wert von 42 gCO2/kWh an; deutlicher besser, aber noch immer zu hoch.

Den CO2-Wert für den Betrieb eines Atomkraftwerkes über alle Unwägbarkeiten der Prozesskette hinweg abzuschätzen, führt zu einer großen Bandbreite der emittierten CO2-Menge. Ein Literaturüberblick kommt zu einem Mittelwert von 66 gCO2/kWh (Sovacool 2008), das World Information Service on Energy gibt sogar 88-146 gCO2/kWh an (WISE International 2017). Zum Vergleich: Sonnen- und Windenergie kommen auf Werte bis hinunter zu 1 gCO2/kWh (Nugent and Sovacool 2014), das Umweltbundesamt veranschlagt bei Wind 8-11 gCO2/kWh (UBA 2021). Wichtig ist hier, dass bei einem breiten Einsatz von Kernenergie zunehmend auf minderwertige Uranlagerstätten zurückgegriffen werden muss. Entsprechend steigt aber der gCO2/kWh-Wert weiter. Obwohl beim Normalbetrieb der Atommeiler wenig CO2 produziert wird, fällt die Gesamtbilanz im Vergleich zu den nicht-fossilen Energieträgern deutlich negativ aus. Das ist übrigens beim Elektroauto sehr ähnlich. Die reine Produktion des Autos führt zurzeit zu einer CO2-Emission von mehr als zehn Tonnen. Unser persönliches CO2-Guthaben wäre für die nächsten zehn Jahre verbraucht.

Es bleibt die Frage, warum uns nach Ansicht der BefürworterInnen nicht ein »kleines Strecken« der Laufzeit, bis die zurzeit installierten Brennstäbe endgültig abgebrannt sind, weiterhilft. Dies würde ja die Endlager praktisch nicht mehr belasten, und der weitgehend sichere etwas längere Betrieb könnte wahrscheinlich gewährleistet werden. Das wären durchaus nachvollziehbare Argumente, wenn tatsächlich der endgültige Ausstieg nicht infrage gestellt würde – woran, wie gesagt, aber Zweifel aufkommen. Schon der Streckbetrieb – wie übrigens sogar die Notfallvorhaltung – bedürfen einer Gesetzesänderung, die dazu genutzt werden könnte, den Wiedereinstieg in die Atomkraft zu erreichen.

Ernsthafte Antworten suchen

Es sollte klar geworden sein, dass es genügend schnell wirkendes Spar- bzw. ökologisch sogar notwendiges Reduktionspotential gibt, dessen Umsetzung gerade nicht durch Einsatz von Atomenergie verzögert werden darf. Nochmal: Der Um- bzw. Rückbau der Wirtschaft war von der neuen Regierung versprochen, der Krieg in der Ukraine ändert daran nichts. Die jetzt vorgenommenen Investitionen in fossile Infrastruktur sind fehl am Platz. Letztendlich zeigen sie, dass man die Klimakrise noch immer nicht ernst nimmt.

All dies verdeutlicht, wie schwer es der Demokratie fällt, die von der Wissenschaft aufgezeigten planetarischen Grenzen umzusetzen. Wir wissen zwar um ihre Notwendigkeit für unser Überleben, sind aber nicht in der Lage, zugunsten unserer langfristigen Überlebensinteressen auf kurzfristige Vorteile zu verzichten. Kognitive Dissonanzen werden verdrängt; man greift zur scheinbar einfachsten Lösung, jetzt der Atomenergie, damit sich nichts ändert. Zu welchen Ausflüchten werden wir greifen, wenn große Teile Deutschlands im Sommer nicht mehr bewohnbar sind, wenn der Meeresspiegel steigt und wenn schließlich die Lebensmittel knapp werden? Werden wir dann dem modernistischen Reflex folgen und uns auf das irrsinnige Abenteuer des »geo-engineering« einlassen, d.h. die Erdatmosphäre durch Eintrag von reflektierenden Partikeln zu managen – und für immer in das Grau des aerosolgetrübten Himmels blicken?

Angesichts der Widersprüchlichkeit, ja Irrationalität unserer Lebensführung stellt sich die grundsätzliche Frage, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft dem Klimawandel begegnen kann. Denn sie ist zu tiefst verwurzelt in einem System, das durch billige Energie und den materiellen Überfluss stabilisiert wird. Unser Wirtschaftssystem kennt nur Wachstum, und Wachstum bedeutet erhöhten Ressourcennachschub, insbesondere vom Globalen Süden in den Norden. »Überfluss und Freiheit« (Charbonnier 2022) – Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von Naturzwängen hängen in der Neuzeit zusammen und dafür gibt es im Anthropozän, im Zeitalter der Kollision der menschlichen mit den planetarischen Geschichte, keine einfache Grundlage mehr.

Literatur

Charbonnier, P. (2022): Überfluss und Freiheit: Eine ökologische Geschichte der politischen Ideen. S. Fischer.

Gabrielli, P., et al. (2020): Early atmospheric contamination on the top of the Himalayas since the onset of the European Industrial Revolution. PNAS 117, S. 3967-3973.

Meier, K. und Hofmann, C. (2022): Ist ohne Gas unser Wohlstand in Gefahr? Oder nur der schlechte Status Quo? Der Freitag 30/2022.

Nugent, D. und Sovacool, B.K. (2014): Assessing the life cycle green house gas emissions from solar PV and wind energy: Acritical meta-survey. Energy Policy 65, S. 229–244.

Pistner C. et al. (2021): Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten (Small Modular Reactors). BASE-Forschungsbericht, 17. März 2021.

Sovacool, B.K. (2008): Valuing the greenhouse gas emissions from nuclear power: A critical survey. Energy Policy 36, S. 2950-2963.

Steffen, W., et al. (2015): Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science 347, 1259855.

Stiglitz, J. (2019): The climate crisis is our third world war. It needs a bold response. The Guardian, 4.6.2019.

UBA (2021): Aktualisierung und Bewertung der Ökobilanzen von Windenergie- und Photovoltaikanlagen unter Berücksichtigung aktueller Technologieentwicklungen. Umweltbundesamt , Climate Change 35/2021.

Vettese, T. und Pendergras, D. (2022): Half-earth socialism: A plan to save the future from extinction, climate change and pandemics. Verso.

WISE International (2017): Climate change and nuclear power. An analysis of nuclear greenhouse gas emissions. Studie im Auftrag des WISE.

Franz Fujara ist pensionierter Experimentalphysiker der TU Darmstadt (fujara@physik.tu-darmstadt.de). Seine Forschungsthemen liegen in der Neutronenforschung, der Kernspinresonanz und im Bereich der zivil-militärischen Ambivalenz nuklearer Technologien.

Ernst Rößler ist pensionierter Experimentalphysiker der Universität Bayreuth (ernst.roessler@uni-bayreuth.de). Seine Forschung untersuchte molekulare Gläser mit Hilfe der dielektrischen und kernmagnetischen Spektroskopie.


[i]      Analysen mehrerer Eisbohrkerne aus Himalaya-Gletschern erlauben die Luftverschmutzung in einem Zeitraum von 1499-1992 zu dokumentieren. Danach ist der Gehalt von Schwermetallen im Eis ab ca. 1780 deutlich angestiegen. Weil diese Schwermetalle bei der Verbrennung von Kohle entstehen und diese fossilen Brennstoffe damals in Asien noch nicht genutzt wurden, ist Europa dafür verantwortlich (Gabrielli et al. 2020).

[ii]    Neben der direkten Sonnenenergienutzung (Photovoltaik, Solarthermie) zählt dazu auch die Wind- und Wasserenergie sowie die Energie aus Biorohstoffen. Von anderer Natur sind die Geothermie und die Gezeitenenergie.

[iii]   »Small Modular Reactors« (SMR) werden seit den 1950er Jahren vor allem als U-Boot-Reaktoren gebaut. Sie werden wegen ihrer Kleinheit als zukünftige Alternative zu den heutigen großen Kernkraftwerken propagiert. Ein BASE-Forschungsbericht setzt sich kritisch mit der zivilen Anwendung von SMR-Konzepten auseinander (Pistner 2021).

Abbildung:

Planetarische Grenzen, „P“ und „N“ stehen für Phosphor bzw. Stickstoff (nach Wikipedia: J. Lokrantz/Azote, basierend auf Steffen et al. 2015).


Vorabdruck. Dieser Text erscheint hier mit freundlicher Genehmigung durch die Redaktion der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden (W&F) vorab. Der Text erscheint in der kommenden Ausgabe 4/22