Die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit werden durch Klimawandel und Umweltzerstörung bedroht, die friedensgefährdende Ökozide mit sich bringen können. Seit fünf Jahrzehnten gibt es Bestrebungen, schwerwiegende Umweltverbrechen im Rahmen des Völkerrechts zu regulieren. Im Kontext der jüngsten Debatte über Klimaklagen und die Rechte der Natur eröffnen sich neue Perspektiven, um auf verschiedenen Ebenen des internationalen Systems mit rechtlichen Mitteln Umweltschutz und Friedenssicherung zusammenzubringen.
Der Klimawandel schreitet schneller voran und seine Folgen sind verheerender als zunächst gedacht. Zu dieser Einschätzung kommt der Weltklimarat (IPCC) in seinem im schweizerischen Interlaken vorgestellten Abschlussbericht.
Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine droht die menschengemachte Erderhitzung und die Gestaltung einer klimagerechten Zukunft aus dem Blick geraten zu lassen. Wir führen in diesem Diskussionsbeitrag aus, welche Probleme sich aus der aktuell verfolgten Energiepolitik ergeben haben und welche sich daraus zukünftig ergeben können. Weiterhin argumentieren wir, dass eine konsequente Wende der Europäischen Union zu einer dezentralen, regenerativen Energieversorgung ein entscheidender Baustein zur europäischen Sicherheit und ein wichtiger Beitrag zu einer nachhaltigen und resilienten Friedenssicherung ist. Vor diesem Hintergrund empfehlen wir: 1. die soziale Gerechtigkeit in den Fokus zu rücken; 2. die Verfügbarkeit kritischer Rohstoffe für erneuerbare Energiesysteme sicherzustellen; 3. europäische Produktionskapazitäten für regenerative Energiesysteme (wieder-)aufzubauen; 4. Resilienz nicht durch vermeidbare Energieimporte zu gefährden; 5. Resilienz durch Dezentralisierung und Regionalisierung der Energieinfrastruktur zu stärken; 6. Sicherheitsprobleme zu vermeiden, die mit Smart Grids verbunden sind; 7. eine breite wirtschaftliche Teilhabe an erneuerbaren Energiesystemen zu fördern.
Brendel, H., Bohn, F.J., Crombach, A., Lukas, S., Scheffran, J., Baumann, F., Elverfeldt, K. von, Finckh-Krämer, U., Hagedorn, G., Hardt, J., Kroll, S., Linow, S., Stelzer, V. (2023). Die Energiewende als Beitrag zur Resilienzstärkung und Friedenssicherung in Europa. Diskussionsbeiträge der Scientists for Future 14 (27.02.2023), 15 Seiten. doi: 10.5281/zenodo.765795
Eine Gruppe von WissenschaftlerInnen der Scientists for Future (S4F) hat in einem Offenen Brief an den Ministerpräsidenten von NRW, die Stellvertretende Ministerpräsidentin und den verantwortlichen Ressort-Minister dazu aufgerufen, die Räumung von Lützerath mit einem Moratorium zu stoppen. Innerhalb von weniger als 24 Stunden unterzeichneten über 500 WissenschaftlerInnen das Schreiben.
An Herrn Hendrik Wüst, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Frau
Mona Neubaur, Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und
Energie und stellvertretende Ministerpräsidentin des Landes
Nordrhein-Westfalen, Herrn Herbert Reul, Minister des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen
Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen wir es als unsere
Pflicht an, auf die Konsequenzen einer Räumung von Lützerath
hinzuweisen.
Wir stellen die Frage nach den gesellschaftlichen Kosten einer
erzwungenen Räumung. Welche Wirkung hat die Räumung im Hinblick auf die
Glaubhaftigkeit der deutschen Klimapolitik? Lützerath ist ein Symbol
geworden. Es geht um ein aussagekräftiges Zeichen für die notwendige
Abkehr vom fossilen Zeitalter.
Es gibt substanzielle wissenschaftliche Zweifel an der akuten
Notwendigkeit einer Räumung. Mehrere wissenschaftliche Gutachten [1,2,
3, 4, 7] kommen zu dem Schluss, dass ein Abbau der Braunkohle unter
Lützerath für eine technische Versorgungssicherheit und Netzstabilität
nicht nötig, sondern politisch bestimmt ist. Vielmehr steht die
Förderung und Verstromung dieser Kohle einer am Pariser Klimaabkommen
und dem europäischen Klimagesetz ausgerichteten Energiepolitik entgegen.
Die Verschärfung des europäischen Emissionshandels vom 18.12.2022 auf
minus 62 Prozent THG-Emissionen im Stromsektor bis 2030 (bezogen auf
1990) lässt mindestens fraglich erscheinen, ob Kohleverstromung in
Deutschland bis 2030 noch wirtschaftlich sein wird [5].
Der Umstiegspfad auf erneuerbare Energien sollte sich somit
insbesondere an einem deutschen und europäischen CO₂-Budget ausrichten,
das mit den Klimazielen von Paris im Einklang steht und ethisch
vertretbar ist [6].
Wir empfehlen ein Moratorium der Räumung.
Dieses bietet die Chance für einen transparenten Dialogprozess mit allen Betroffenen zur Entwicklung von zukunftsfähigen Pfaden der gesellschaftlichen Transformation und Zeit für die Überprüfung der zugrunde liegenden Entscheidungsprämissen. Die Glaubwürdigkeit der deutschen Klimapolitik würde wesentlich gestärkt werden – international und besonders bei der jungen Generation.
Freitag, den25. November | 18:00-20:00 Uhr | online via Zoom
Nato-Osterweiterung, Aufrüstung der
Ukraine durch Nato-Mitgliedsstaaten, Ignoranz gegenüber russischen und
gemeinsamen europäischen Sicherheitsinteressen, Zerstörung der Rüstungskontrolle,
vornehmlich durch die USA; Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine
(wie jeder Angriffskrieg völkerrechtswidrig) ist der vorläufige Höhepunkt einer
kriegerischen Eskalationsspirale erreicht. Nun stehen wir vor der Drohkulisse
eines Atomkrieges, die wiederholte Erwähnung der Möglichkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen
rückt die menschliche Zivilisation wie wir sie kennen an den Rand der
Auslöschung. Die Doomsday Clock des Bulletins of Atomic Scientists steht 100
Sekunden vor Mitternacht. Die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen ist
in eine neue Phase getreten. In dieser Phase wird Realität, wovor bisher nur
gewarnt wurde:
In der Transformation von einer
unipolaren zu einer multipolaren Welt werden militärische Mittel zur Sicherung
von Eigeninteressen, Ressourcenzugängen und Einflusssphären angewandt. Der
Frieden der „kannibalischen Weltordnung“ (Jean Ziegler) folgt der anti-politischen
Logik des Krieges: eine Dynamik von Konkurrenz, Aufrüstung, Sanktionen und
diplomatischer Eskalation. Es gibt nur noch Gut und Böse, Freund und Feind. Der
Feind muss besiegt werden, es darf zu keinem anderen Ergebnis dieser
Konfrontation kommen. Dem wird alles untergeordnet, auch wirtschaftliche
Interessen, Welternährung und Menschenrechte. Eine „Zeitenwende“ soll die Kriegslogik
rechtfertigen, die an die Stelle von Politik tritt: Vergangenheit, Zukunft,
Kooperation, Kompromiss und das Verhandeln berechtigter Interessen werden
bedeutungslos.
In krassem Gegensatz dazu befinden wir
uns in einer noch nie dagewesen, multiplen Krise: rasantes Artensterben,
frühere Kipppunkte des Klimas als angenommen, Entdemokratisierung. Im
Anthropozän steht die Zukunft des menschlichen Lebens auf dem Spiel. Wichtige
Schritte hin zum Schutz unseres Planeten vor den Auswirkungen der Wachstumsgesellschaft
werden rückgängig gemacht, um kurzfristige Interessen durchzusetzen. Um diesen
„Krieg gegen unseren Planeten“ (Altvater/Mahnkopf) zu beenden, braucht es eine
Wende hin zu globalen, politischen
Lösungen auf Grundlage der Friedenslogik.
In dieser Veranstaltung sollen die
Prämissen der Kriegslogik anhand aktueller Beispiele analysiert und dargestellt
sowie ihre Entstehung entlang von Einzelinteressen einer wachstumsabhängigen
Minderheit nachvollzogen werden. Es werden Handlungsalternativen hin zu einer
Friedenslogik und einer sozial-ökologischen Transformation der Demokratisierung
vorgestellt und diskutiert. Die Ergebnisse werden Ausgangspunkt weiterer
Veranstaltungen sein.
Programm:
18:00 Uhr | Technische Hinweise
18:05 Uhr| Einleitung Malte
Albrecht (NatWiss)
18:15 Uhr | Einleitende Beiträge
Moderation: Malte Albrecht (NatWiss)
Von der Irrealisierung über die Moralisierung zur strukturellen Faschisierung der Diskurse: Die Debatte um den Ukraine-Konflikt und ihre Vorläufer Rainer Fischbach (Arbeitet als Softwareexperte in der Industrie, lehrte Informatik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und forschte zur militärischen Technologiefolgen-abschätzung als Mitglied der Working Group Peace Research and European Security)
Von
der Kriegslogik zur Friedenslogik: Zeitenwende zum nachhaltigen Frieden Prof.
Dr. Jürgen Scheffran (NatWiss, Universität Hamburg)
CETA:
Sargnagel für Demokratie und Klima Dr.
Sibylle Brosius (NatWiss)
SGR and UCS call on scientists to support our campaign on Elsevier’s fossil fuel industry links.
The Union of Concerned Scientists (UCS) and Scientists for Global Responsibility (SGR) today launched a petition requesting
a formal response from Elsevier and its parent company RELX that
outlines how they intend to meet their commitments as a member of the UN
Race to Zero
campaign. As a signatory of this campaign, Elsevier—which publishes
nearly 3,000 journals accounting for about 15% of all academic
publishing—pledged to halt the facilitation of new fossil fuel assets
and ensure their external activities are aligned with the goal of
reaching net-zero heat-trapping emissions by 2050.
“The scientific realities of the climate crisis are undeniable in the peer-reviewed literature,” said Dr Kristina Dahl,
a principal climate scientist with UCS and a signatory to the petition.
“It’s time for the companies publishing these journals to walk the talk
and align their actions with what is outlined in the global Paris
climate agreement as that’s what the science demands. Elsevier has
already taken the first step by signing onto the U.N.’s Race to Zero
pledge, now they need to publicly declare the actions they will take to
meet that commitment.” A related blogpost by Dr Dahl can be found here.
The petition emphasized activities Elsevier and RELX currently
undertake that should be halted for the betterment of the climate,
including:
Providing fossil fuel industry-oriented research and
development, as well as data services, used by most top oil, gas, and
coal companies
Lobbying and financially supporting U.S. politicians who block climate action
Disseminating content, informing practices and techniques, and
providing information and resources related to expansion of fossil fuel
exploration
Hosting coal, offshore drilling, and other industry exhibitions
that enable participants to grow their businesses and boost fossil fuel
production
Petition: Demand that Elsevier Cut Ties with the Fossil Fuel Industry
Elsevier is one of the biggest names in academic publishing,
operating more than 2,700 scientific, technical, and medical journals in
which scientific research is peer-reviewed and published. While
Elsevier and its parent company tout the important research they publish
on climate science and publicly claim to be committed to a clean energy future, their practices tell a very different story.
Earlier this year, The Guardian ran a powerful article exposing the ties of Elsevier to the fossil fuel industry
and other business activities that are antithetical to meeting the kind
of climate goals science tells us we need in order to reduce the worst
impacts of climate change.
We think Elsevier can do better. As a member of the scientific community, your voice carries weight.
Add your name to the letter: Demand that Elsevier better align its business practices with its publicly stated values and pledges.
Die Klimakrise ist und
wird ein zukünftiger Konflikttreiber sein; die Gefahren, die von ihr ausgehen,
sind außerordentlich. Bei den Debatten um Anpassung, Technologietransfer und
Treibhausgasreduktionen wird jedoch überraschenderweise immer wieder die
Atomenergie als mögliche (temporäre) Lösung genannt. Der Beitrag thematisiert
die damit einhergehenden Fehlschlüsse und regt dazu an, grundlegender zu denken
– gerade auch angesichts des Ukrainekrieges.
Ein Sommer von außerordentlicher Hitze, bisher unbekannter
Dürre und europaweiter Waldbrände steckt uns noch in den Knochen. Waren das
weitere Boten des Klimawandels infolge der Erwärmung der Erdatmosphäre? Was
werden wir erst sagen, wenn wir in Brandenburg kein Getreide mehr anbauen
können oder der Rhein nicht mehr schiffbar ist? Sind das die prophezeiten
Kipppunkte, nach denen nichts mehr so sein wird wie früher?
UmweltexpertInnen sind nicht überrascht, sie haben es
erwartet. Klar ist ihnen auch, dass die notwendige Dekarbonisierung unseres
gesellschaftlichen Lebens so schnell wie eben möglich in Angriff genommen
werden muss. Denkfabriken haben die Marschrouten bis hin zu den zu erwartenden
Kosten festgelegt. Der Nobelpreisträger für Ökonomie, Joseph Stiglitz,
verkündete gar: „Der Klimawandel ist unser Dritter Weltkrieg“ (Stiglitz
2019). So war die Hoffnung groß, dass nach 16 Jahren umweltpolitischer
Versäumnisse die neue rot-gelb-grüne Regierung die heißen Eisen der
Umweltpolitik endlich anpacken würde – und sie hat es im Koalitionsvertrag
versprochen.
CO2-Reduktion
im Mittelpunkt
Im Mittelpunkt steht die Menge an Kohlendioxid (CO2),
dem wichtigsten Treibhausgas, die noch emittiert werden darf. Das seit ca. 250
Jahren[i] durch
verstärkte Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas entstandene CO2
sammelt sich in der Atmosphäre an, was den Temperaturanstieg auf der Erde
verursacht. Es gibt deshalb nur einen Ausweg, der globalen Überhitzung zu
entkommen: Wir müssen die Verbrennung fossiler Energieträger praktisch auf Null
zurückfahren. Es wird uns im Wesentlichen nur die Energie der
Sonneneinstrahlung (und ihrer sekundären Effekte) bleiben[ii], so wie
vor dem Einsatz der Dampfmaschine.
Um den Temperaturanstieg auf noch verträgliche 1,5 bis 2
Grad zu begrenzen, hat der Weltklimarat die für Emissionen noch zur Verfügung
stehende Menge an CO2 global ermittelt. Für Deutschland gibt es dazu
seitens des Sachverständigenrates für Umweltfragen mehrere Stellungnahmen in
den letzten Jahren und auch das Bundesverfassungsgericht zog das CO2-Budget
als Maßstab für die Bewertung der Klimapolitik des Bundes heran. Danach bleiben
uns noch ca. zwei Milliarden Tonnen CO2, die bis 2027 ausgestoßen
werden dürfen. Anders formuliert: Von einem derzeitigen jährlichen
Pro-Kopf-Verbrauch von ca. zehn Tonnen CO2 müssen wir auf unter eine
Tonne kommen und das bis 2027. Dieses Datum ist verdammt nah und erlaubt keinen
Umweg, keine »Übergangstechnologien« und insbesondere kein Weiter-so. Ohne
Zweifel eine Herkulesaufgabe!
Veränderte Situation,
falsche Reaktionen
Der Ukrainekrieg stellt alle diese Vorhaben und Vorsätze auf
den Kopf. Wenn man vor Putins Angriff von einer Notstandssituation sprach,
dachte man an den Klimanotstand – eine beträchtliche Zahl von Kommunen riefen
ihn übrigens sogar formell aus. Jetzt erfährt dieser Begriff eine völlige
Umdeutung: alles dreht sich um die Verteidigung des Status Quo. Trotz drohender
Kipppunkte im Erdsystem, trotz Hitze und Dürre wird damit die Abkehr vom bisherigen
Wohlstandsmodell und insbesondere von fossilen Energien vertagt. Statt
Alternativen voranzubringen wird auf wiederhergestellte Importe über die
Pipeline » Nord Stream 1« gehofft, werden Terminals für Flüssiggas ausgebaut
und Kohlekraftwerke wieder hochgefahren. Auch ohne den Krieg wäre die
Dringlichkeit der Transformation nicht kleiner gewesen und ihre Umsetzung würde
der Ukraine sogar eher (unmilitärisch) helfen.
Von der in Deutschland insgesamt aus der Gasverbrennung
bereitgestellten Energie geht etwa ein Drittel in die Industrie. Aber es kann
doch kein Staatsziel sein, die
industriellen Hauptabnehmer von Gas, die Chemie-, die Papier- und die
Glasbranche, in ihrer derzeitigen Form unbesehen zu erhalten. Denn wenn mit
Hilfe von Gas zu einem großen Teil ökologisch schädliche oder verzichtbare
Produkte hergestellt werden, dann muss eine Produktionsumstellung oder gar ein
Rückbau dieser Bereiche vorgenommen werden (Meier und Hofmann 2022).
Der größte industrielle Gasverbraucher ist die Chemische
Industrie. Ein Teil des Gases wird zur Herstellung von Stickstoffdünger
genutzt. Aber war nicht geplant, das Ausbringen von Dünger deutlich zu
reduzieren? Von den neun wissenschaftlich etablierten »planetarischen Grenzen«
– u.a. Temperatur der Erdoberfläche, Frischwasserversorgung, Ozongehalt der
Atmosphäre – überschreiten der jetzt schon eingebrachte Phosphor und Stickstoff
die entsprechende Grenze deutlich (siehe Abbildung).
Ein weiterer Teil des Gases wird für die
Kunststoffproduktion eingesetzt. Doch brauchen wir die bisherigen Mengen? Die
toten Zonen in den Ozeanen werden immer größer, Mikroplastik ist überall. Dabei
wäre es beispielsweise ein Leichtes, recyclebare Verpackungen per Gesetz
einzuführen.
Entsprechendes gilt für die Glasindustrie. Ein Großteil der
Produktion besteht aus Getränkeflaschen und Gläsern für Nahrungsmittel. Eine
konsequente Pfandpflicht würde schnell den Gasverbrauch reduzieren.
Noch grundsätzlicher: Wenn unsere Autos, Kühlschränke,
Wachmaschinen und Handys langlebiger wären, dann könnte ihre Produktion
entsprechend zurückgefahren werden. Hinzukommen könnten kurzfristig umsetzbare
Maßnahmen wie eine Beschränkung der Ladenöffnungszeiten, ein begrenzter
Gebrauch von Klimaanlagen, Reduzierung der städtischen Beleuchtung usw. – und
ein Tempolimit. Allen an der politischen Umsetzung Beteiligten war ohnehin
klar, dass der ökologische Umbau strukturelle wie persönliche Kosten
verursachen wird, also Sparen angesagt ist.
CO2-Reduktion
durch Atomkraft?
Doch jetzt gerät stattdessen sogar der Atomausstieg ins
Wanken. Einige sprechen von Streckbetrieb, andere von einer mehrjährigen
Laufzeitverlängerung der noch nicht abgeschalteten AKW. Verwegene fordern gar
AKW-Neubauten. Solche Forderungen kommen vor allem von denjenigen, die den
Ausstiegsbeschluss im Grunde nie wirklich akzeptiert hatten, die den Ausbau der
Erneuerbaren Energieträger am wenigsten forciert haben und die jetzt angesichts
der Gaskrise die Chance einer »Renaissance der Kernenergienutzung« wittern. Ob
die unter Wirtschaftsminister Habeck geplante Streckung des Betriebs zweier AKW
das letzte Wort in Sachen Atomenergie ist, bleibt daher fraglich.
Lassen wir im Lichte dieser Debatte die Probleme bzw.
vermeintlichen Vorzüge der Atomenergie noch einmal Revue passieren. Die
grundsätzlichen BefürworterInnen der Kernenergie bringen dafür im Wesentlichen
drei Argumente vor: Atomenergie ist CO2-frei, sicher und lässt auf
neue vielversprechende Reaktortypen hoffen.
Beginnen wir von hinten:
Neue Reaktortypen werden seit Jahrzehnten diskutiert, Versuchstypen
verschlangen enorme Geldsummen, ihre erfolgreiche Erprobung ist bislang nie
gezeigt worden und sie kämen für die Bewältigung der Klimakrise zu spät. Auch
die sogenannten »Small Modular«-Reaktoren[iii] werfen
mehr neue Probleme auf als sie alte lösen, und die Fusionsenergie käme, wenn
überhaupt jemals, viel zu spät.
Die Gefahr einer großen Havarie (GAU) und ihrer Folgen ist
weiterhin das größte Problem der Atomenergienutzung, wenngleich sich
BefürworterInnen und GegnerInnen in ihrer Beurteilung stark unterscheiden.
Festzustellen bleibt aber, dass ein intrinsisch sicherer Reaktortyp nicht
existiert und dass die bisherigen Unglücke neben den großen Opfern an
menschlichem Leben, Natur und Umwelt exorbitante finanzielle Kosten
verursachen. So werden Kosten aller Hinterlassenschaften für die Entsorgung der
verstrahlten Abfälle und Gebäude von Fukushima auf mehrere hundert Milliarden
US$ geschätzt (Vettese und Pendergras 2022). Unabhängig davon bleiben die
gewaltigen Probleme des Uranbergbaus, der zivil-militärischen Ambivalenz und
der Endlagerung. Hinzu kommt, dass sich Planung und Bau neuer Atommeiler über
Jahrzehnte hinzieht und zu extrem teuren Anlagen führt.
Damit kommen wir zur Frage, wie hoch die tatsächliche CO2-Emission
eines AKW ist, und zwar der gesamten technischen Prozesskette, beginnend mit
dem bergmännischen Uran-Abbau bis hin zum Endlager und Rückbau. Diese Frage
wird in der Öffentlichkeit in der Regel schnell beantwortet: AKW sind CO2-frei,
heißt es – dies sei ihr entscheidender Vorteil, um mit der Klimakrise
zurechtzukommen! Aber ist das wirklich so?
Die von der IPCC ermittelten Rahmenbedingungen kann man auf
die noch zulässige CO2-Menge (in g) pro erzeugter elektrischer
Energiemenge (in kWh) herunterrechnen. Klimamodelle kommen für die Einhaltung
des 2-Grad-Ziels auf einen nicht zu überschreitenden Emissionswert von ca. 15
gCO2/kWh (Vettese und Pendergras 2022). Um diesen Wert einschätzen
zu können, ein Beispiel eines Berliner Wohnblocks mit ca. 20 Wohneinheiten: Der
Betrieb der Ölheizung verursacht einen jährlichen Verbrauch von 320.000 kWh,
die mit einer Emission von ca. 100 Tonnen CO2 verbunden ist. Das
entspricht etwa 300 gCO2/kWh, also einem um den Faktor 20 zu hohen
Wert. Zurzeit bietet der Anschluss an die Berliner Fernheizung einen
erstaunlich niedrigen Wert von 42 gCO2/kWh an; deutlicher besser,
aber noch immer zu hoch.
Den CO2-Wert für den Betrieb eines
Atomkraftwerkes über alle Unwägbarkeiten der Prozesskette hinweg abzuschätzen,
führt zu einer großen Bandbreite der emittierten CO2-Menge. Ein
Literaturüberblick kommt zu einem Mittelwert von 66 gCO2/kWh
(Sovacool 2008), das World Information Service on Energy gibt sogar 88-146 gCO2/kWh
an (WISE International 2017). Zum Vergleich:
Sonnen- und Windenergie kommen auf Werte bis hinunter zu 1 gCO2/kWh
(Nugent and Sovacool 2014), das Umweltbundesamt veranschlagt bei Wind 8-11 gCO2/kWh
(UBA 2021). Wichtig ist hier, dass bei einem breiten Einsatz von Kernenergie
zunehmend auf minderwertige Uranlagerstätten zurückgegriffen werden muss.
Entsprechend steigt aber der gCO2/kWh-Wert weiter. Obwohl beim
Normalbetrieb der Atommeiler wenig CO2 produziert wird, fällt die
Gesamtbilanz im Vergleich zu den nicht-fossilen Energieträgern deutlich negativ
aus. Das ist übrigens beim Elektroauto sehr ähnlich. Die reine Produktion des
Autos führt zurzeit zu einer CO2-Emission von mehr als zehn Tonnen.
Unser persönliches CO2-Guthaben wäre für die nächsten zehn Jahre
verbraucht.
Es bleibt die Frage, warum uns nach Ansicht der
BefürworterInnen nicht ein »kleines Strecken« der Laufzeit, bis die zurzeit
installierten Brennstäbe endgültig abgebrannt sind, weiterhilft. Dies würde ja
die Endlager praktisch nicht mehr belasten, und der weitgehend sichere etwas
längere Betrieb könnte wahrscheinlich gewährleistet werden. Das wären durchaus
nachvollziehbare Argumente, wenn tatsächlich der endgültige Ausstieg nicht
infrage gestellt würde – woran, wie gesagt, aber Zweifel aufkommen. Schon der
Streckbetrieb – wie übrigens sogar die Notfallvorhaltung – bedürfen einer
Gesetzesänderung, die dazu genutzt werden könnte, den Wiedereinstieg in die
Atomkraft zu erreichen.
Ernsthafte Antworten
suchen
Es sollte klar geworden sein, dass es genügend schnell
wirkendes Spar- bzw. ökologisch sogar notwendiges Reduktionspotential gibt,
dessen Umsetzung gerade nicht durch Einsatz von Atomenergie verzögert werden
darf. Nochmal: Der Um- bzw. Rückbau der Wirtschaft war von der neuen Regierung
versprochen, der Krieg in der Ukraine ändert daran nichts. Die jetzt
vorgenommenen Investitionen in fossile Infrastruktur sind fehl am Platz.
Letztendlich zeigen sie, dass man die Klimakrise noch immer nicht ernst nimmt.
All dies verdeutlicht, wie schwer es der Demokratie fällt,
die von der Wissenschaft aufgezeigten planetarischen Grenzen umzusetzen. Wir
wissen zwar um ihre Notwendigkeit für unser Überleben, sind aber nicht in der
Lage, zugunsten unserer langfristigen Überlebensinteressen auf kurzfristige
Vorteile zu verzichten. Kognitive Dissonanzen werden verdrängt; man greift zur
scheinbar einfachsten Lösung, jetzt der Atomenergie, damit sich nichts ändert.
Zu welchen Ausflüchten werden wir greifen, wenn große Teile Deutschlands im
Sommer nicht mehr bewohnbar sind, wenn der Meeresspiegel steigt und wenn
schließlich die Lebensmittel knapp werden? Werden wir dann dem modernistischen
Reflex folgen und uns auf das irrsinnige Abenteuer des »geo-engineering«
einlassen, d.h. die Erdatmosphäre durch Eintrag von reflektierenden Partikeln
zu managen – und für immer in das Grau des aerosolgetrübten Himmels blicken?
Angesichts der Widersprüchlichkeit, ja Irrationalität
unserer Lebensführung stellt sich die grundsätzliche Frage, wie eine
demokratisch verfasste Gesellschaft dem Klimawandel begegnen kann. Denn sie ist
zu tiefst verwurzelt in einem System, das durch billige Energie und den
materiellen Überfluss stabilisiert wird. Unser Wirtschaftssystem kennt nur
Wachstum, und Wachstum bedeutet erhöhten Ressourcennachschub, insbesondere vom
Globalen Süden in den Norden. »Überfluss und Freiheit« (Charbonnier 2022) –
Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von Naturzwängen –
hängen in der Neuzeit zusammen und dafür gibt es im Anthropozän, im Zeitalter
der Kollision der menschlichen mit den planetarischen Geschichte, keine
einfache Grundlage mehr.
Literatur
Charbonnier, P. (2022): Überfluss und Freiheit: Eine
ökologische Geschichte der politischen Ideen. S. Fischer.
Gabrielli, P., et al. (2020): Early atmospheric contamination on
the top of the Himalayas since the onset of the European Industrial Revolution.
PNAS 117, S. 3967-3973.
Meier, K.
und Hofmann, C. (2022): Ist ohne Gas unser Wohlstand in Gefahr? Oder nur der
schlechte Status Quo? Der Freitag 30/2022.
Nugent, D.
und Sovacool, B.K. (2014): Assessing the life cycle green house gas emissions
from solar PV and wind energy: Acritical meta-survey. Energy Policy 65,
S. 229–244.
Pistner C. et al. (2021): Sicherheitstechnische Analyse und
Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten (Small Modular Reactors). BASE-Forschungsbericht, 17. März
2021.
Sovacool,
B.K. (2008): Valuing the greenhouse gas emissions from nuclear power: A
critical survey. Energy Policy 36, S. 2950-2963.
Steffen,
W., et al. (2015): Planetary boundaries: Guiding human development on a changing
planet. Science 347, 1259855.
Stiglitz,
J. (2019): The climate crisis is our third world war. It needs a bold response.
The Guardian, 4.6.2019.
UBA (2021): Aktualisierung und
Bewertung der Ökobilanzen von Windenergie- und Photovoltaikanlagen unter
Berücksichtigung aktueller Technologieentwicklungen. Umweltbundesamt
, Climate Change 35/2021.
Vettese, T. und Pendergras, D. (2022): Half-earth socialism: A plan to
save the future from extinction, climate change and pandemics. Verso.
WISE
International (2017): Climate change and nuclear
power. An analysis of nuclear greenhouse gas emissions. Studie im Auftrag des
WISE.
Franz Fujara ist
pensionierter Experimentalphysiker der TU Darmstadt
(fujara@physik.tu-darmstadt.de). Seine Forschungsthemen liegen in der
Neutronenforschung, der Kernspinresonanz und im Bereich der zivil-militärischen
Ambivalenz nuklearer Technologien.
Ernst Rößler ist
pensionierter Experimentalphysiker der Universität Bayreuth
(ernst.roessler@uni-bayreuth.de). Seine Forschung untersuchte molekulare Gläser
mit Hilfe der dielektrischen und kernmagnetischen Spektroskopie.
[i] Analysen mehrerer Eisbohrkerne aus
Himalaya-Gletschern erlauben die Luftverschmutzung in einem Zeitraum von
1499-1992 zu dokumentieren. Danach ist der Gehalt von Schwermetallen im Eis ab
ca. 1780 deutlich angestiegen. Weil diese Schwermetalle bei der Verbrennung von
Kohle entstehen und diese fossilen Brennstoffe damals in Asien noch nicht
genutzt wurden, ist Europa dafür verantwortlich (Gabrielli et al. 2020).
[ii] Neben der direkten Sonnenenergienutzung
(Photovoltaik, Solarthermie) zählt dazu auch die Wind- und Wasserenergie sowie
die Energie aus Biorohstoffen. Von anderer Natur sind die Geothermie und die
Gezeitenenergie.
[iii] »Small Modular Reactors« (SMR) werden seit
den 1950er Jahren vor allem als U-Boot-Reaktoren gebaut. Sie werden wegen ihrer
Kleinheit als zukünftige Alternative zu den heutigen großen Kernkraftwerken
propagiert. Ein BASE-Forschungsbericht setzt sich kritisch mit der zivilen
Anwendung von SMR-Konzepten auseinander (Pistner 2021).
Abbildung:
Planetarische Grenzen, „P“ und „N“ stehen für Phosphor bzw. Stickstoff (nach Wikipedia: J. Lokrantz/Azote, basierend auf Steffen et al. 2015).
Vorabdruck. Dieser Text
erscheint hier mit freundlicher Genehmigung durch die Redaktion der Zeitschrift
Wissenschaft und Frieden (W&F) vorab. Der Text erscheint in der kommenden
Ausgabe 4/22
Wie Krieg und Frieden mit den Folgen des Klimawandels zusammenhängen, analysiert Professor Jürgen Scheffran am aktuellen Krieg Russlands in der Ukraine. Nachhaltige Energieversorgung und wirksamer Klimaschutz sind auch ein wichtiger Beitrag zur Friedenssicherung.
„Netzwerke der Wissenschaft mit Russland und der Ukraine sind Keimzellen des Wiederaufbaus von Vertrauen“, sagen Malte Albrecht und Jürgen Scheffran. In ihrem Gastbeitrag schlagen sie konkrete Schritte für eine friedensfördernde Wissenschaft vor.
Die Veranstaltung fand am 14.1.22 statt. Wenn Sie uns unterstützen möchten, freuen wir uns über jede Spende: http://natwiss.de/start/spenden/
Frieden, Klimaschutz und Gerechtigkeit sind untrennbar miteinander verbunden, man wird kein Ziel ohne die anderen beiden erreichen. Geeignete rechtliche Grundlagen sind unabdingbar für eine Lösung, wie die Erfahrung der Friedensbewegung zeigt.
Diese Veranstaltung befasst sich mit den Rechtsfragen. Bereits im kalten Krieg haben internationale und überprüfbare Abrüstungsverträge das Vertrauen geschaffen, so dass am Ende die Konfrontation friedlich beendet werden konnte. Die UNO und die KSZE boten Diskussionsforen und gaben z.B. durch die UN-Menschenrechtskonvention und das Völkerrecht einen rechtlichen Rahmen.
Dies müsste wieder geschehen, diesmal zusammen gedacht mit Klimaschutz und der Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung für alle Länder.
Auf UN-Ebene gibt es Diskussionen zu ius cogens. Die ILC (International Law Commission) hat auch bereits einen Auftrag, ein Regelwerk für Atmosphärenschutz zu entwickeln. Daneben gibt es bereits internationale Abkommen wie das Montrealabkommen zum Verbot von FCKW 1987, die Konvention von Rio zur Erhaltung der Biodiversität 1992 und das Klimaschutzabkommen von Paris 2015.
Auf nationaler Ebene gibt es bereits viele, auch erfolgreiche Klagen von Betroffenen, deren Lebensgrundlagen durch den Klimawandel bedroht sind.
Wie erreicht man jetzt, dass Klimaschutz ein Völkerrecht wird? Gibt es Möglichkeiten durch das Regelwerk der UN oder wird Klimaschutz Völkerrecht, wenn in genügend Fällen nationale Gerichte den Klagen der Betroffenen stattgeben? Können Staaten ein Recht bei der UN fordern oder auch klagen?
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