21.07.2014
in der Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 19./20.7.2014 schreibt Frank Niehuysen auf Seite 5 unter der Überschrift:
„Der Trotz des bösen Buben“:
(…)
„Nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die Gegensätze dominieren mehr und mehr das Verhältnis zwischen West und Ost. ‚Die Ukraine-Krise ist in eine Phase der amerikanisch-russischen Rivalität, sogar Konfrontation übergegangen, die an das Great Game im 19. Jahrhundert erinnert, als es um die Vorherrschaft zwischen Russland und dem britischen Empire ging‘, schreibt der russische Analytiker Dmitrij Trenin vom Moskauer Carnegie-Zentrum: ‚Russland konzentriert sich auf die postsowjetische Integration in Europa und Asien, während die USA in Europa eine Linie gegen Russland ziehen wollen. Die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau sind dabei die Schlachtfelder im amerikanisch-russischen Kampf um Einfluss“.
John McCain, republikanischer Senator, steht derzeit mit an der Spitze dieses Kampfes auf US-Seite:
„Wenn herauskommt, dass entweder die Separatisten oder die Russen aus Versehen den Jet für ein ukrainisches Militärflugzeug gehalten haben, dann werden sie fürchterlich dafür zahlen müssen“, zitiert ihn Reymer Klüver in der Süddeutschen Zeitung, 18.7.2014, Seite 2 unter der Überschrift: „Spiel mit dem Feuer“ – und beendet seinen Artikel: „Es war wieder John McCain, der aussprach, was die Hardliner in Washington als nächste Stufe sehen: ‚Wenn Sie die ukrainische Regierung fragen, dann würden die sagen, sie brauchen Waffen'“.
Dieser Eskalationshaltung gilt es zu widersprechen: Wenn Frieden in Europa wieder hergestellt werden soll, braucht die Ukraine nicht mehr Waffen, sondern kluge, entschiedene Deeskalations-Diplomatie.
Wie ernst die Situation vor allem im Spannungsverhältnis USA-Europa-Russland inzwischen ist, zeigt der nachfolgende Beitrag von Willy Wimmer, früherer Staatssekretär und CDU-Bundestagsabgeordneter und die einführende Kommentierung von Albrecht Müller, ehemaliger Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt bei Willy Brandt und Helmut Schmidt und Abgeordneter des Deutschen Bundestages, der die „Nachdenkseiten“ verantwortet:
http://www.nachdenkseiten.de/?p=22379
14. Juli 2014 um 16:51 Uhr
Alarmstufe „Rot“ – ein weiterer Denkanstoß
von Willy Wimmer
Verantwortlich: Albrecht Müller
Der frühere Parlamentarische Staatssekretär und CDU-Bundestagsabgeordnete verfolgt das Geschehen mit großer Sorge – so auch jetzt das Geschehen an der Grenze zwischen der Ostukraine und Russland. Er sieht ein Zusammenspiel zwischen den Spitzen in der Ukraine und den USA unter Ausschluss der europäischen Staaten. Da gibt es eine kleine Differenz zu meiner Einschätzung: ich fürchte, ein Großteil unserer Führungspersonen stecken unter der gleichen Decke.
Albrecht Müller.
Hier der Text von Willy Wimmer:
Seit dem Versuch, die Ukraine-Krise wegen der Aufstände in Kiew durch die Außenminister Fabius, Sikorski und Steinmeier zu lösen, zieht es sich bis zu den jüngsten und angeblichen Vereinbarungen zwischen Poroschenko, Putin und Hollande wie ein roter Faden durch die kriegsgefährlich gewordene Ukraine-Krise. Es wird der nachdrückliche Beweis dafür erbracht, dass jeder europäische Lösungsversuch durch den ukrainischen Präsidenten und seine Master in Washington hintertrieben wird. Die europäischen Staaten müssen nicht erst seit den offenen Worten von Frau Nuland aus dem US-Außenministerium erkennen, wie sehr, was in der Ukraine zum offenen Krieg mit Nachbarn führen wird, als „Drehbuch“ in Washington und in keiner europäischen Hauptstadt liegt.
Es ging in der Vorfreude für das Endspiel bei der Fußball-Weltmeisterschaft völlig unter, dass am Wochenende offenbar von ukrainischen Stellungen Ziele auf russischem Staatsgebiet unter Feuer genommen worden sind. Zufall oder nicht? Aus der Reaktion in Kiew kann jeder entnehmen, dass Vorfälle wie die von diesem Wochenende den dortigen Machthabern völlig egal sind. Folgen haben sie ohnehin nicht zu befürchten. Dafür sorgen andere. Nicht zuletzt der noch im Amt befindliche NATO-Generalsekretär Rasmussen. Wochenlang hat er die russische Seite aufgefordert, die eigenen Truppen von der russischen Seite der ukrainisch-russischen Grenze abzuziehen. Jetzt wissen wir auch, warum diese Aufforderung erfolgt ist.
In einer Zeit, in der sich die eine Hälfte Europas in Ferien befindet und ein weiterer Teil sich mit Fußball beschäftigte, brennt zwischen der Ukraine und Russland die Zündschnur. Von dem Massenmord auf dem Maidan-Platz in Kiew angefangen, wurde diese Lunte für etwas Größeres bewusst gelegt. Dabei spielte es für den Westen und hier vor allem für die grenzenlos willfährige „Qualitätspresse“ keine Rolle, aufzuklären, wer die Menschen auf dem Platz erschossen hat, um dem Umsturz die „Krone“ aufzusetzen. Bislang konnten die Opfer solcher Massaker davon ausgehen, dass der Westen um ihrer selbst willen die Täter anklagte. Heute ist gewiss, dass westliches Handeln eine Frage der Opportunität ist. Das nennt man gemeinhin „moralische Verkommenheit“. In Kiew und in der Frage, wer sich dort allgemein westlicher Unterstützung erfreut, kann sehr gut festgestellt werden, wie wenig von einer ehemals stolzen „westlichen Wertegemeinschaft“ übriggeblieben ist.
Die Ukraine scheint die Blaupause für weiteres Vorgehen in Europa und darüber hinaus zu werden. Das Vorgehen des ukrainischen Machthabers Poroschenko gegenüber dem Osten seines eigenen Landes und vor allem der dort lebenden Bevölkerung hat nichts mehr von dem an sich, wie Schwierigkeiten im eigenen Land beigelegt oder angegangen werden können. Das ist Krieg gegen die eigene Bevölkerung und das mit einer angeblich aus dem Boden gestampften „Nationalgarde“, die aus den faschistischen Gruppen, vor allem aus der Westukraine, geschaffen worden ist. Den Menschen in der Ostukraine wird auf diese Weise demonstriert, dass jene Kräfte zurückkehren, die in der Vergangenheit millionenfaches Leid nicht nur über diese Landstriche gebracht haben. Europa sollte sich schämen, diesen Gestalten auch nur den Schimmer eines Verständnisses zukommen zu lassen.
Das amerikanisch-Kiew-ukrainische Ziel dieses Vorgehens wird notfalls auf den offenen Krieg mit Russland aus sein, um letztlich die Ukraine als Bollwerk nicht nur gegen Russland nutzen zu können. Sollte es gelingen, die Ukraine derart den USA dienstbar zu machen, wird es einen kompletten Riegel unter US-Kontrolle zwischen dem Baltikum über Polen und die Ukraine zum Schwarzen Meer geben. Ein amerikanisches Ziel, das auf dem NATO-Gipfel in Riga 2006 schon einmal angesteuert worden ist. Da dieser amerikanische Vorstoß am Widerstand der Europäer seinerzeit gescheitert ist, hat jetzt Washington die Daumenschrauben gegenüber den unbotmäßigen Europäern angesetzt. Dann eben Totalkontrolle über die Ukraine ohne die Europäer.
Damit können gleich zwei substantielle Ziele in dramatischer Weise umgesetzt werden: Washington schmeißt Russland aus Europa hinaus und bekommt Westeuropa unter Komplett-Kontrolle. Da mag es traditionell noch so gute Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland geben. Washington dreht diesen Hahn in Zukunft ab oder Moskau kriecht zu Kreuze und liefert nicht nur das russische Erdgas und Erdöl amerikanischer Kontrolle aus, wie es zu Zeiten von Yukos fast gelungen wäre. Die Grenzverletzungen am Endspiel-Wochenende durch ukrainische Einheiten an der russisch/ukrainischen Grenze sind der Vorgeschmack dafür, wie hoch das „Preisschild“ ausfallen dürfte.
Wir Westeuropäer sollten uns nichts vormachen. Wir werden zum „Europäer-Gebiet“, wenn noch vor der vom „Spiegel“ in Aussicht gestellten Ende der Kanzlerschaft Merkel die Vereinigten Staaten uns das „Transatlantische Freihandelsabkommen“ aufoktroyiert haben werden. Es sind nicht die Chlor–Hähnchen, die unser Schicksal besiegeln werden. Das werden die Schiedsgerichte im Interesse der US-Anwaltsfabriken sein, die den Resten der parlamentarischen Demokratie in unseren Staaten den Garaus machen werden. Man mag sich gar nicht mehr daran erinnern, dass Willy Brandt Deutschland einmal mehr Demokratie in Aussicht stellte. Seit Jahren werden wir von „oben nach unten“ regiert und die eigenen deutschen Entscheidungsmöglichkeiten sind im Moloch Brüsseler Lobbyinteressen verschwunden. Das, was vom europäischen demokratischen System noch übrig geblieben ist, soll jetzt dem Überfall amerikanischer Schiedsgerichte zur Aushebelung unserer Regierungen und Parlamente standhalten? Daran zu denken bedeutet, die Hoffnungslosigkeit zum politischen Grundmuster zu machen.
Nach dem von den Streitkräften im Auslandseinsätzen gefürchteten „friendly fire“, bei dem man Opfer der eigenen Waffenwirkung wird, kommt jetzt offenbar das System der „friendly occupation“ zur Vollendung der genannten Ziele. Es gibt wohl kaum eine Hauptstadt, die den USA gegenüber so offen ist, wie man das für Berlin sagen kann. Andererseits nehmen bei kaum noch vorhandener administrativer und politischer Gestaltungskraft in der deutschen Hauptstadt „councils für dit und dat“ im US-Interesse sich die noch vorhandenen Entscheidungsträger „vor die Brust“. Amerikanisches Gedankengut und Einfluss, wohin man auch den Blick schweifen lässt. Berlin gibt den Amerikanern jedes Papier und jedes Dokument, das von amerikanischem Interesse ist, doch schon freiwillig raus. Wozu dann noch Spionage und das auch noch von Wien aus. Wenn man schon den Hals nicht vollkriegen kann, was bleibt dann noch übrig? Die Frage hat vor wenigen Tagen und überaus öffentlich der Präsident des BDI, Herr Grillo, angesprochen.
Zutreffend und ziemlich spät wies Herr Grillo darauf hin, mit welch gefüllten „Kriegskassen“ amerikanische Globalkonzerne in Europa nach dem Muster Alstrom in Frankreich auf Einkaufstour gehen. Nachdem man für seine Erlöse – aus den vom britischen Premierminister bekannt gemachten Gründen – schon kaum Steuern bezahlt, sticht man jeden europäischen Mitbewerber durch amerikanische Angebote aus und reißt sich von der deutschen und europäischen Industrie noch das unter den Nagel, was noch nicht im Bestand der USA ist.