Redebeitrag von Jürgen Scheffran für den Ostermarsch in Wedel am 30. März 2024
Liebe Freundinnen und Freunde,
die Welt erlebt immer neue Krisen: Corona-Pandemie und Demokratiekrise, Klima-, Energie-und Wirtschaftskrise, Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen. Wir sehen Höchstwerte an Gewaltkonflikten, Flüchtlingszahlen und Rüstungsausgaben. Alles ist mit allem verbunden. Die Folgen werden mit astronomischen Summen bekämpft, nicht aber die Ursachen, obwohl dies billiger und wirksamer wäre. Was für die Dauerkrise verantwortlich ist, wird nicht thematisiert. Liegt der Fehler im System?
Die von Europa ausgehende Expansion hat über Jahrhunderte die Erde kolonisiert und erobert. Nach dem Kalten Krieg versuchte der Westen im Siegestaumel diese Expansion fortzusetzen, auch mit Gewaltmitteln. Dies stößt auf planetare und ökologische Grenzen, wie auch auf ökonomische, soziale und politische Grenzen. Damit verbunden sind nicht nur steigende Kosten und Risiken, sondern auch Widerstände und Gewalt gegen die westliche Hegemonie.
Um ihre Weltordnung aufrecht zu erhalten, nutzen den USA ihre vielfache militärische Überlegenheit, das weltweite Netz von Militärbasen und die enormen Rüstungsausgaben wenig. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie in nahezu 30 Kriege und militärische Interventionen verwickelt, mit gewaltigen Kosten und Zerstörungen. Was haben sie damit für den Weltfrieden erreicht? Einige Kriege haben die USA trotz immenser Anstrengungen verloren, den Vietnamkrieg und den Afghanistankrieg vorneweg. Auch wo sie einen „Sieg“ reklamierten, waren es Pyrrhus-Siege, wie im Irak oder im Kosovo. Eine echte Befriedung oder Demokratisierung war mit Waffengewalt nicht zu erreichen. Auf das Völkerrecht wurde wenig Rücksicht genommen. Es wurden Kriegsgründe konstruiert und von den Massenmedien verbreitet, die Wahrheit blieb auf der Strecke.
Das ist heute im Ukrainekrieg nicht anders als im Gazakrieg, in denen die Ursachen durch die Empörung über Gewaltexzesse verdeckt werden. Mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg tritt Russland die westliche Weltordnung mit Füßen, die als Demütigung und Bedrohung gesehen wird. Hamas schlachtete die Unterdrückung des palästinensischen Volkes aus und überraschte Israel mit einem äußerst brutalen Anschlag auf die Zivilbevölkerung. Beide demonstrieren die Schwäche der militärischen Übermacht des Gegners. Während der Westen seinen Einflussverlust beklagt und der Ukraine nicht zum Sieg verhelfen kann, ist Israel wegen seines destruktiven Vorgehens isoliert und schafft sich neue Gegner. Die politischen Verluste lassen sich durch immer stärkere Gewaltmittel nicht ausgleichen, gießen eher noch Öl ins Feuer und fördern die Eskalation.
Leidtragende sind die Bevölkerungen in der Ukraine und in Palästina. Sie werden zum Spielball geopolitischer Machtkämpfe und der am Krieg verdienenden Gewaltökonomien auf allen Seiten, die die Zeitenwende vorantreiben und die Spirale der Gewalt anheizen. Archaische Feindbilder reduzieren die Komplexität der Welt auf simple Muster von Gut und Böse. Ihre Verbreitung in sozialen Medien bereitet den Nährboden für Hass, Nationalismus und Rechtsextremismus, den Politiker wie Donald Trump für sich nutzen. Das gab es vor einem Jahrhundert schon einmal und führte in die beiden Weltkriege.
Im Sommer 1914 unterschrieb Albert Einstein gegen die Begeisterung des Ersten Weltkriegs einen „Aufruf an die Europäer“: „Der Kampf, der heute tobt, wird wahrscheinlich keinen Sieger hervorbringen; es wird wohl nur die Besiegten lassen.“ Es sei zu erwarten, dass „alle europäischen Beziehungsbedingungen in einen instabilen […] Zustand gerieten“. Wie sehr trifft dies heute zu?
Weder Waffenlieferungen und Militärhilfe an die Ukraine, noch umfassende Sanktionen haben den Krieg bislang entscheiden können. Sie haben den Krieg verlängert und dazu beigetragen, dass die Ukraine zerstört, erschöpft und ausgeblutet ist. Vermeintliche Wunderwaffen wie der Leopard-Panzer oder der Taurus-Marschflugkörper können das Blatt nicht wenden oder Russland in die Knie zwingen. Trotz hoher Kosten und Opfer gibt Putin nicht auf. Im Westen wurden mit dem Krieg die Energie- und Wirtschaftskrise verschärft, die Demokratie untergraben, Meinungsfreiheit eingeschränkt, die Gesellschaft militarisiert, Bellizismus und Rechtpopulismus gestärkt. Die Gefahr eines Welt- und Atomkriegs ist höher denn je und wird durch den Ruf nach deutschen oder europäischen Atomwaffen auf die Spitze getrieben. Sie machen unser Land erst recht zum Ziel eines Nuklearangriffs, gegen den keine Abwehrsysteme, Bunker oder Zivilschutzmaßnahmen helfen. Zugleich wird die Lösung globaler Probleme beeinträchtigt: Armut und Hunger, Vertreibung und Flucht, Umweltzerstörung und Klimawandel. Rüstung und Krieg belasten auch die Umwelt.
Dennoch versuchen Politik und Massenmedien weiterhin den Krieg zu gewinnen, koste es was es wolle. Das grenzt an Realitätsverlust und ist in Deutschland schon zweimal schief gegangen. Nicht aus Fehlern zu lernen, heißt alles aufs Spiel zu setzen. Wer diesem Weg nicht folgen will, wird moralisch unter Druck gesetzt und an den Rand gedrängt. Am Ende wird gar die Antikriegsbewegung für das Scheitern verantwortlich gemacht, wie seinerzeit in der Dolchstoßlegende, um die Verantwortlichen freizusprechen.
Dabei ist es wenig glaubhaft, dass ausgerechnet unser westliches System für die prekäre Weltlage nicht verantwortlich sein soll, obwohl es nach 1990 die stärkste Wirtschaftsmacht, die größte Militärmacht und die einzige Supermacht auf sich vereinte. Durch Ignoranz und fehlende Selbstkritik wurden damals die Chancen leichtfertig verspielt, die von der Friedensbewegung geforderte Friedensdividende durch neue Kriege und wieder steigende Rüstungsausgaben zunichte gemacht. Dadurch wurde die Welt nicht sicherer, im Gegenteil. Wer am 24. Februar 2022 in einer anderen Welt aufgewacht ist, muss lange geschlafen haben. Aus kritischer Sicht kam dies weniger überraschend.
Viel Panzer, wenig Hirn, damit lassen sich die Zukunftsherausforderungen nicht bewältigen. Um Lösungen zu finden, brauchen wir mehr kluge Köpfe als Sprengköpfe, mehr menschliche Intelligenz als künstliche Intelligenz. Unsere Medien suchen sich die ExpertInnen heraus, die der Kriegstüchtigkeit das Wort reden. Wer sich für Friedenstüchtigkeit einsetzt, bleibt außen vor oder wird ins Kreuzfeuer genommen. Nun geraten auch noch die Zivilklauseln an den Universitäten unter Beschuss, die für das Militär forschen sollen. Mit Gehorsam und Geheimhaltung gehen Freiräume der Wissenschaft verloren, werden Vernunft und Verstand an den Rand gedrängt. Unter einem Stahlhelm ist es schwer, kreativ zu denken.
Um aus der Kriegslogik gegeneinander und für eine nachhaltige Friedenslogik miteinander zu finden, braucht es eine kritische und vorausschauende Friedenswissenschaft und –politik:
Dazu gehört der Verzicht auf Wirtschaftskriege, Waffenlieferungen oder Militäraktionen, die die Eskalationsspirale antreiben und die Bevölkerung treffen.
Dringend benötigt wird humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und Opfer von Gewalt, ebenso wie der Ausbau von Verbindungen zwischen Zivilgesellschaft und Friedensbewegung aller Länder, um für eine Beendigung von Gewaltkonflikten zu mobilisieren.
Den Versuchen einer Militarisierung der Gesellschaft müssen zivile Prinzipien für menschliches Zusammenleben und Konfliktlösung entgegen gestellt werden.
Zu kritisieren sind die Profiteure und Unterstützer von Kriegen, und nicht die Friedenskräfte, die davor warnen und „Die Waffen nieder!“ fordern.
Um die Kriegslogik zu durchrechen, braucht es Deeskalation und Diplomatie, Einstellung und Einfrieren von Kriegshandlungen, Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien, Schutz und Stärkung des Völkerrechts, Schaffung einer europäischen und globalen Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas. Die weiße Fahne sollte Verhandlungsbereitschaft signalisieren und nicht Unterwerfung.
Statt einer Zeitenwende für Aufrüstung und Krieg brauchen wir eine Zeitenwende für Abrüstung und Frieden, für gemeinsame Sicherheit im Haus Europa und die nachhaltige Lösung globaler Probleme.
Wir müssen nicht Kriege gewinnen, sondern den Frieden!
Prof. Dr. Jürgen Scheffran ist seit August 2009 Professor für Klimawandel und Sicherheit am Institut für Geographie der Universität Hamburg.